Für Merkel ist Europa "die beste Chance"

  14 November 2018    Gelesen: 1083
Für Merkel ist Europa "die beste Chance"

Eine Vision für Europa, darum soll es bei Merkels Auftritt vor dem EU-Parlament gehen. Eine schwierige Aufgabe für die pragmatische Kanzlerin. Sie bleibt sich treu, findet aber trotzdem deutliche Worte für das, was einer EU droht, die ihre Solidarität aufgibt.

Die Buh-Rufe nimmt Angela Merkel betont gelassen. Sie würden schließlich zeigen, dass sie den Kern getroffen habe, sagt die Kanzlerin bei ihrem Auftritt vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Ohnehin werden die Rufe, die vor allem von rechtsextremen Abgeordneten kommen, immer wieder vom Applaus übertönt, den Merkel für ihre Rede erhält.

Merkel hat ihre Anhänger im Parlament, auch wenn ihr Verhältnis zur EU schwierig ist. Stets hat sich die Kanzlerin als begeisterte Europäerin gezeigt. Wenn es um konkrete Maßnahmen ging, wurde sie jedoch oft vorsichtig. Von großen Würfen hält sie ohnehin nicht viel. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron legte vor mehr als einem Jahr seine Vision von der Zukunft der Union dar. Bis heute ist Berlin ihm eine konkrete Antwort schuldig.

Den Widerspruch zwischen idealistischer EU-Begeisterung und realpolitischer Vorsicht versucht Merkel in ihrer Straßburger Rede aufzulösen. Sie bekennt sich vor dem, wie sie es nennt, "größten demokratischen Parlament der Welt" ausdrücklich zur europäischen Einigung. Sie spricht von der Toleranz als der Seele Europas und der Solidarität als "Teil der europäischen DNA".

Gleichzeitig warnt sie, dass das Projekt Europa gefährdet sei, durch Staatsschuldenkrise und Terrorismus, durch Flucht und Migration, durch digitalen Fortschritt, die Folgen des Klimawandels oder die Aufkündigung von Allianzen durch alte Verbündete. Es sei "immer wichtiger, dass wir Europäer zusammenstehen", sagt Merkel und fordert mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten: "Individuelle, nationale Entscheidungen haben immer Auswirkungen auf die ganze Gemeinschaft."

"Eine echte europäische Armee schaffen"


Sie erwähnt etwa die Schuldenpolitik, die die Stabilität der gesamten Eurozone in Frage stelle - ohne Italien, das derzeit im Haushaltsstreit mit Brüssel liegt, konkret zu nennen. Und sie erwähnt Verstöße gegen europäische Werte. Wer Rechte in seinem Land einschränke, "gefährdet die Rechte von uns allen in Europa", sagt sie wohl in Anspielung auf Polen und Ungarn, gegen die die EU Verfahren wegen der mutmaßlichen Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit eingeleitet hat.

Doch neben ihrem Appell an die Solidarität der Mitgliedstaaten nennt Merkel auch Punkte, in denen die Zusammenarbeit besonders wichtig sei. Zunächst geht es um die Außen- und Sicherheitspolitik. "Wir Europäer müssen unser Schicksal stärker in die eigene Hand nehmen, wenn wir überleben wollen als Gemeinschaft", sagt sie und erhält viel Applaus. Sie schlägt vor, in außenpolitischen Fragen auf das Gebot der Einstimmigkeit zu verzichten, um handlungsfähiger zu sein. Auch einen europäischen Sicherheitsrat mit wechselnden Mitgliedern kann sie sich vorstellen.

Vor allem aber bringt sie eine erweiterte militärische Zusammenarbeit ins Spiel: "Wir sollten an der Vision arbeiten, eines Tages auch eine echte europäische Armee zu schaffen", sagt Merkel. Diese Idee hat zuletzt Macron offensiv vertreten - und wurde prompt von US-Präsident Donald Trump kritisiert. Merkel fügt auch gleich an, dass eine europäische Armee ja nicht gegen die Nato gerichtet sei, sondern "eine gute Ergänzung" sein könne. Doch bis es soweit ist, dürfte noch viel Zeit vergehen. Zumal zwischen Berlin und Paris strittig ist, wie der Weg hin zu einer europäischen Armee aussehen könnte. Auch Merkel bleibt in ihrer Rede konkrete Vorschläge schuldig.

Selbstkritik in der Flüchtlingsfrage


Nicht anders ist es beim Thema Wirtschaft. "Wenn wir wirtschaftlich nicht stark sind, werden wir politisch nicht einflussreich sein", warnt Merkel und betont die Bedeutung einer stabilen Währungs- und Wirtschaftsunion. Dazu will sie den europäischen Stabilitätsmechanismus weiterentwickeln, die Bankenunion vollenden und einen Eurozonenhaushalt anstreben. Bis Dezember strebt sie "sichtbare Erfolge" an, dann wollen die Länder wieder über die Euroreform debattieren.

Schließlich kommt Merkel auf jenes Thema zu sprechen, für das sie in Europa viel kritisiert wurde: Flucht und Migration. In dieser Frage "ist Europa noch nicht so geeint, wie ich mir das wünschen würde", sagt sie und fordert eine stärkere Zusammenarbeit bei Grenzschutz und Asyl. Die Nationalstaaten müssten hier Kompetenzen abgeben, sonst funktioniere das nicht, mahnt die Kanzlerin. Gleichzeitig gibt sie sich selbstkritisch: Deutschland habe das Thema früher als europäische Aufgabe annehmen müssen.

Gemeinsam Aufgaben zu lösen, weil man nur so überleben könne - das ist der rote Faden, der sich durch Merkels Rede zieht. "Toleranz und Solidarität sind unsere gemeinsame Zukunft", sagt sie. Eine Vision wie Macron liefert Merkel dabei nicht. Das sollte man von ihr vielleicht auch gar nicht erwarten. "Es muss irgendwann das realisiert werden, was man sich vornimmt. Da mag ich manchmal etwas zurückhaltend sein mit der Formulierung von Zielen. Dazu stehe ich aber", sagt die Kanzlerin fast schon trotzig. Irgendwer müsse ja auch auf die Machbarkeit achten.

Dafür versteht sie es, mit klaren Worten deutlich zu machen, was Europa droht, wenn man jetzt auf nationale Eigeninteressen setzt, wenn man das Prinzip der Solidarität aufgibt: die Bedeutungslosigkeit in einer Welt, deren Entwicklungen immer schwieriger vorauszusagen sind. "Europa ist unsere beste Chance auf dauerhaften Frieden, auf dauerhaften Wohlstand und auf unsere Zukunft", sagt Merkel. Um diese Chance zu erhalten, setzt Merkel auf kleine Schritte statt auf den großen Sprung.

Quelle: n-tv.de


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