Warum Europas Genossen am Tropf hängen

  29 Dezember 2018    Gelesen: 1138
Warum Europas Genossen am Tropf hängen

Europas klassisches Arbeitermilieu ist fast ausgestorben. Was der größte Erfolg der Sozialdemokratie ist, beschleunigt gleichzeitig ihren Niedergang. Auf der Suche nach einer neuen Wählerklientel drohen sich die Mitte-links-Parteien zu verlieren.

Anfang Dezember, Lissabon: Europas Sozialdemokraten haben gerade Frans Timmermans zu ihrem Spitzenkandidaten gekürt. Stehend klatschen sie sich Mut an - im treibenden Takt zum Sommerhit "Bella Ciao". Das Lied über "die Schöne" hat eine lange Geschichte. Bevor es im Zweiten Weltkrieg zur Partisanenhymne wurde, sangen es Anfang des 20. Jahrhunderts die Arbeiterinnen in den Reisfeldern Norditaliens. "Unwürdige Arbeit für einen Hungerlohn", heißt es in einer Strophe. "Und das Leben wird davon aufgezehrt. Aber es kommt der Tag, an dem wir alle in Freiheit arbeiten werden." Für den sozialdemokratischen Mythos ist dieses Lied wie geschaffen. Um es aus der Mottenkiste in die Moderne zu holen, reicht ein kräftiger Elekro-Beat. Dagegen gestaltet sich der Wandel der klassischen Arbeiterparteien Europas ungleich schwieriger.

Nicht nur in der Heimat Timmermans - den Niederlanden - mussten die Sozialdemokraten der Partij van de Arbeid (PvdA) innerhalb nur weniger Jahre einen historischen Absturz erleben. Auch in Frankreich, Tschechien, Italien und (natürlich) Deutschland kämpfen die Mitte-links-Parteien ums nackte Überleben. Die deutsche SPD verharrt in der Wählergunst seit Wochen bei mageren 14 Prozent. Geht es um die Gründe für das Formtief, herrscht intern allenthalben Ratlosigkeit. Dass es den Genossen im EU-Ausland kaum besser ergeht, macht die Situation nicht erträglicher - eher noch bedrohlicher. Denn es beweist: Der Niedergang von Europas Sozialdemokraten ist mehr als ein akutes Symptom. Der Patient hängt schon am Tropf.

Parteienforscher haben einen Begriff für die Selbstzerstörung der Sozialisten: Pasokisierung. Er geht zurück auf den Fall von Griechenlands Arbeiterpartei Pasok; sie ist quasi der Patient Null. Lange war Pasok die bestimmende politische Kraft in Griechenland. Noch im Jahr 2009 kam sie bei den Parlamentswahlen auf 43,9 Prozent der Stimmen. Doch nur sechs Jahre später war der einstige Parteiriese auf Zwergengröße geschrumpft - mit nur noch 4,7 Prozent. Das lag vor allem an den Fehlern, die Pasok vor dem Krisenjahr 2010 machte. Dass sich die Griechen schließlich dem Spardiktat der EU beugen mussten, kostete die Sozialisten in den Folgejahren jede Unterstützung. Davon profitierte die radikale Linke.

Sozialdemokratische Splitterparteien

Bei den Parlamentswahlen 2015 übernahmen Alexis Tsipras und seine linke Partei Syriza die Führung im Land - auch weil sie den Menschen versprochen hatten, dass sie den Sparkurs der EU beenden werden. "Schluss mit der Troika!", hatte Tsipras den Leuten zugerufen. Mit Erfolg. Syriza avancierte zur neuen Hoffnung der "kleinen Leute". Pasok wurde endgültig obsolet. Parteienforscher Uwe Jun von der Universität Trier begründet das auch mit den fehlenden Angeboten der Sozialstaatsparteien an ihre traditionellen Wähler. "Denen ist die Sozialdemokratie aufgrund ihrer Regierungstätigkeit häufig zu kompromissorientiert", sagt er n-tv.de. "Und dann neigen die Wähler zu linkspopulistischen Positionen."

Dass die Schwäche der Sozialdemokraten die politischen Ränder stärkt, lässt sich auch in Italien und Tschechien beobachten. Dort kamen zuletzt sehr junge Bewegungen an die Macht - gerade weil sie sich von den etablierten Parteien und der regierenden Elite abzugrenzen versuchten. Die italienische Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega boten einfache Antworten auf Fragen zu Migration und innerer Sicherheit, die der sozialdemokratische Regierungschef Matteo Renzi seinerzeit scheute. Zugleich setzte er Reformen - etwa im Arbeitsrecht - durch, die von vielen Wählern als unsozial empfunden wurden. Interne Streitereien taten ein Übriges zum Absturz des Partito Democratico. Nun regiert ein rechtes Bündnis das schwer verschuldete Land.

Traditionelles Wählermilieu bricht weg

Die wenigsten abgewanderten Wähler erwarten, dass dadurch irgendetwas besser wird. "Den Populisten vertrauen sie auch nicht", erklärt Parteienforscher Jun. "Aber sie bringen darin ihren Protest zum Ausdruck und ihr verlorenes Vertrauen in die Sozialdemokratie." Ein bisschen paradox ist das schon - denn Europas Sozialdemokraten haben ihr wichtigstes Versprechen in den vergangenen Jahrzehnten zu großen Teilen eingelöst: jenes vom sozialen Aufstieg. Wohlstand zu erlangen, ist für viele Menschen deutlich leichter geworden - auch, weil das Bildungsniveau in allen Schichten zugenommen hat.

Dadurch verlor die Sozialdemokratie allerdings auch ihr angestammtes Klientel: den Arbeiter. "Das zweite Problem ist", sagt Jun, "dass diejenigen, die jetzt noch in sozial prekärem Status leben, oftmals nicht mehr an das Aufstiegsversprechen glauben." Sie laufen stattdessen zu den Populisten über. Ganz gleich, ob rechts oder links. Um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, müsste dem Experten zufolge eine klare Strategie her - doch daran scheitern derzeit viele sozialdemokratische Parteien in Europa. Auch die SPD. Während einige Parteimitglieder die Lösung in einem linkeren Profil sehen, setzen andere auf die gesellschaftliche Mitte. Das Ergebnis ist Streit.

Ein Verfechter des ersten Weges ist Marco Bülow. Sein Austritt aus der SPD vor einigen Wochen sorgte für Schlagzeilen. Schon seit längerem kritisiert der Bundestagsabgeordnete die Linie seiner Partei. In Europa, krisitiert er, habe sich die Sozialdemokratie mit dem Neoliberalismus arrangiert. Das sei ihr großer Fehler. Ihre Aufgabe wäre demnach eher gewesen, "grundlegend Dinge in unserem kapitalistischen System in Frage zu stellen". Stattdessen habe sie die Ungleichheit mit angeheizt. Nur die sozialdemokratische Labour Partei in Großbritannien bilde eine Ausnahme, so Bülow, weil sie sich erneuert und einen radikaleren Kurs gegen die Tories eingeschlagen habe. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Labour vor allem von der Schwäche der konservativen Regierung unter Theresa May profitiert. 

Für die Europawahl im kommenden Jahr verheißt das alles nichts Gutes. Nicht nur in Deutschland droht der SPD mit 16,5 Prozent der Stimmen (minus elf Prozent) eine bittere Wahlschlappe - in Frankreich könnte der Rassemblement National von Rechtspopulistin Marine Le Pen stärkste Kraft werden. Die Erfahrung zeigt, dass sich Ländertrends auf europäischer Ebene fortsetzen. Und tatsächlich droht die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) laut Prognosen, 51 Sitze im EU-Parlament zu verlieren. Europas Genossen bräuchten dringend einen neuen Mythos, um nicht am Ende selbst als "die Schöne" von damals besungen zu werden. "Die Vergangenheit ist unser Lehrer", sagt Frans Timmermans in Lissabon, "aber sie sollte nicht unsere Zukunft sein. Denn dann gehen wir verloren."

Quelle: n-tv.de


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