n-tv.de: In knapp zwei Monaten soll Großbritannien aus der EU ausscheiden - und ein Austritt ohne Abkommen wird immer wahrscheinlicher. Bereiten Sie sich schon auf einen harten Brexit vor?
Peter Liese: Wir müssen das leider tun und haben im EU-Parlament schon seit Langem Vorbereitungen getroffen, etwa beim Emissionshandel oder bei der Zulassung von Medikamenten. Trotzdem hoffe ich, dass wir den harten Brexit noch abwenden können - und nach Möglichkeit auch den Brexit überhaupt.
Dafür haben Sie sogar in der vergangenen Woche, gemeinsam mit mehr als hundert EU-Abgeordneten, in einem Brief an die Briten appelliert, den EU-Ausstieg noch einmal zu überdenken. Ist so eine Einmischung hilfreich?
Wir haben lange gezögert, weil eine Einmischung ja auch nach hinten losgehen kann. Aber die britischen europafreundlichen Kollegen haben gesagt, jetzt sei die Zeit für solch ein Zeichen, da in Großbritannien behauptet wird: "Die Europäer wollen Euch gar nicht mehr, der Brexit kann nicht rückgängig gemacht werden." Um dieses Argument zu entkräften, haben wir den Brief geschrieben mit der klaren Botschaft: "Wir wollen, dass alles getan wird, um diese Katastrophe abzuwenden. Unsere Herzen und unsere Arme sind offen. Wenn die Briten möchten, sind sie in der EU herzlich willkommen."
Wie kam dieser Brief an?
Die proeuropäischen Kollegen haben gesagt: "Das war eine Ermutigung und ein sehr wichtiges Zeichen, genauso wie der Brief von Annegret Kramp-Karrenbauer und vielen anderen Deutschen vom vergangenen Wochenende."
Wie erklären Sie sich denn das Gefühl vieler Briten, dass die EU sie nicht haben will?
Den Brexit-Anhängern ist kein Mittel zu blöd und zu unanständig, um ihre falsche Agenda durchzubringen. Natürlich ist die Rückabwicklung des Brexit kein Kinderspiel. Die Sitze Großbritanniens im EU-Parlament sind zum Teil schon an andere Länder verteilt worden. Praktisch sind da schon ein paar Problemchen zu lösen. Aber wir wollten einfach klarmachen, dass das Kleinigkeiten sind im Vergleich zu der Katastrophe, die bei einem Brexit oder gar bei einem harten Brexit droht.
Der Tory Brexiteer Jacob Rees-Mogg nennt die Warnungen vor einem harten Brexit "stark übertrieben". Dieser sei nicht "das Ende der Welt".
Der harte Brexit ist auch bei der besten Vorbereitung eine große Katastrophe. Er wird in allen Bereichen zu riesigen Problemen führen. Die Wirtschaft wird leiden, in Großbritannien dramatisch, aber auch auf dem Kontinent, in Deutschland. Unternehmen werden Einbußen haben und Arbeitsplätze werden gefährdet sein. Die Menschen werden leiden. Es wird keine Regeln mehr über die Übertragung von Sozialversicherungsansprüchen geben, etwa für Deutsche, die in Großbritannien arbeiten. Ganz konkrete Probleme gibt es beim Reisen. Am dramatischsten aber wird die Situation im britischen Gesundheitswesen sein, das jetzt schon ziemlich schlecht ist. Wenn dann noch die vielen Ärzte aus der EU fehlen, weil sie nicht mehr abgesichert sind und an der Grenze drangsaliert werden, wird die Lage noch schlimmer: Ganz konkrete, lebensnotwendige Therapien werden nicht mehr stattfinden. Patienten werden nicht mehr behandelt werden können und Menschen deshalb leider sterben.
Der Brexit-Deal von Premierministerin Theresa May ist vor allem wegen des Backstops zurückgewiesen worden. Sollte die EU Großbritannien hier nicht entgegenkommen?
Wir können da nicht schwach werden, weil die EU eine Friedensgemeinschaft ist. Unser allerwichtigstes Ziel ist der Frieden auf dem europäischen Kontinent. Nordirland, das mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt hat, und das zur EU gehörende Irland dürfen nicht durch eine harte Grenze getrennt werden. Sonst brechen womöglich die Kämpfe wieder aus, bei denen noch vor 25 Jahren zahlreiche Menschen starben. Wenn es eine harte Grenze gibt, könnte der Hass erneut aufbrechen und wir machen uns mitschuldig am Wiederaufflammen des Bürgerkrieges.
Aber hätte die EU in den vergangenen Jahren nicht besser verhandeln müssen, um so eine Sackgasse nun zu vermeiden?
Die EU hat nichts falsch gemacht. Wir haben uns sehr bemüht, alles Menschenmögliche zu tun. Aber die harte Grenze und die Rosinenpickerei sind und bleiben rote Linien. Das ist auch die einhellige Meinung der deutschen Wirtschaft, die bei einem harten Brexit ja erstmal sehr leiden wird. Unternehmensvertreter sagen immer wieder: Der Handel mit Großbritannien ist wichtig. Aber wenn wir den Eindruck erwecken, als könne man aus der EU austreten und durch Rosinenpickerei nur Vorteile erhalten, müsse aber nicht die Pflichten übernehmen, ist das eine Einladung an andere Länder, genauso zu handeln. Und dann zerfällt der europäische Binnenmarkt, dann zerfällt Europa. Der Preis wäre zu hoch.
Sehen Sie einen Ausweg aus der jetzigen verfahrenen Situation?
Es gibt zwei Auswege, um den harten Brexit zu vermeiden. Die britischen Kollegen im EU-Parlament, die gegen den Brexit sind, erwarten, dass Theresa May ihren Deal so oder so ähnlich noch durchbringt. Denn um ein zweites Referendum zu vermeiden, könnten die harten Brexit-Anhänger nun doch umschwenken auf den Deal. Der andere Ausweg wäre, dass der Druck aus der Bevölkerung auf die Unterhausabgeordneten so groß ist, dass sie einem zweiten Referendum zustimmen. Das würde dann anders ausgehen als das erste, diesmal würde sich die Mehrheit für einen Verbleib in der EU entscheiden.
Aber wenn der Widerstand in Großbritannien gegen die EU so groß ist, ist es nicht besser nach der Devise zu verfahren "Reisende soll man nicht aufhalten"?
Wenn das nur ein psychologisches Problem wäre, würde ich sagen: "Dann muss man sie vielleicht gehen lassen." Aber der Schaden für die Briten selbst und für den Rest Europas ist einfach zu groß.
Mit Peter Liese sprach Gudula Hörr
Quelle: n-tv.de
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