Was ist der INF-Vertrag?
Der Vertrag wurde 1987 von den USA und der Sowjetunion geschlossen. INF steht für Intermediate Range Nuclear Forces (nukleare Mittelstreckensysteme). Beide Staaten verständigten sich darin auf die Vernichtung aller bestehenden bodengestützten Raketen, die eine Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern haben und atomar bestückt werden können. Besitz, Produktion und Flugtests neuer Raketen sind verboten. Mittelstreckenwaffen gelten als gefährlich, weil ihre relativ kleine Reichweite und Schnelligkeit die Vorwarnzeit stark verkürzen, was auch die Anfälligkeit für Missverständnisse und Fehlalarme erhöht.
Der INF-Vertrag gilt auch für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Diese Beschränkung wird von den USA zunehmend kritisiert. Andere Länder, etwa China, Indien, Israel und der Iran, können ungehindert Mittelstreckenraketen produzieren.
Warum wollen die USA aus dem Vertrag aussteigen?
Washington wirft Russland seit 2014 - noch unter Präsident Barack Obama - vor, gegen den Vertrag zu verstoßen. Zunächst ging es um den Test neuer Marschflugkörper, seit 2017 auch um die Stationierung entsprechender Raketen bei zwei Bataillonen. Am 20. Oktober 2018 sagte US-Präsident Donald Trump, er werde den INF-Vertrag wegen der anhaltenden russischen Verstöße kündigen. Er bezog sich dabei auf den Marschflugkörper 9M729 (westlicher Codename: SSC-8), der nach US-Angaben mindestens 2600 Kilometer weit fliegen kann.
Anfang Dezember räumten die USA Russland eine Frist von 60 Tagen ein. Bis dahin müsse das Land "vollständig und überprüfbar" die Regeln des INF-Vertrags einhalten. Die Frist endet am 2. Februar, danach fühlen sich die USA nicht mehr an den Vertrag gebunden. Ein Austritt aus dem INF-Abkommen tritt sechs Monate nach dessen formalem Beschluss in Kraft.
Gibt es Beweise für die Vorwürfe?
Öffentliche Nachweise eines russischen Verstoßes gibt es bisher nicht. Jeffrey Edmonds, unter Obama Leiter der Russland-Abteilung des Nationalen Sicherheitsrates, konstatiert aber, dass angesichts der Prüfmechanismen in den USA eine "hohe Wahrscheinlichkeit" bestehe, "dass handfeste Beweise vorliegen". Oliver Thränert, Leiter des Think Tank am Center for Security Studies der ETH Zürich, sagte n-tv.de, dass der Marschflugkörper "nach allem, was wir aus öffentlichen Quellen wissen, eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern hat und offenbar auch an zwei Orten in Russland stationiert" sei.
Wie reagiert Russland?
Moskau hat die Existenz von 9M729 eingeräumt, bestreitet aber, gegen den INF-Vertrag zu verstoßen. Die Reichweite der Rakete beträgt russischen Angaben zufolge 480 Kilometer, einen Nachweis dafür gibt es bisher nicht. Kürzlich wurde 9M729 internationalen Militärexperten und Journalisten vorgestellt. Laut Teilnehmern wurde der Marschflugkörper aber gar nicht gezeigt, sondern nur die Abschussrampe, ein Container und ein Vorgängermodell. "Das ist kein Beitrag zu Transparenz", hieß es von einem Nato-Diplomaten. Einladungen an die USA, den Flugkörper zu begutachten, schlugen diese bisher aus.
Kremlchef Wladimir Putin beschuldigt Washington, nur einen Vorwand zu suchen, um sich selbst aus dem Abkommen zurückzuziehen. Zudem droht er, das eigene Atomarsenal aufzustocken, wenn der Vertrag aufgelöst wird. Martialisch äußerte sich Generalstabschef Waleri Gerassimow: "Nicht das Territorium der USA, sondern das der Länder, die amerikanische Kurz- und Mittelstreckenraketen stationieren lassen, wird zum Objekt der Zerstörung bei einer Antwort Russlands."
Russland wirft den USA seinerseits Verstöße gegen den INF-Vertrag vor. Dabei geht es um US-Raketenabwehrstellungen in Rumänien und Polen, die dieselbe Technik verwenden wie Abschussrampen von seegestützten Marschflugkörpern. Die USA bestreiten, dass dieses Raketenabwehrsystem einfach als Abschussrampe benutzt werden könne. Thränert sagt dazu: "Hier geht es nicht darum, offensive Nuklearraketen einzusetzen, sondern hier geht es darum, mit nicht-nuklearen Systemen Raketenabwehr zu betreiben."
Wie verhält sich die Nato?
Die 29 Staaten des Verteidigungsbündnisses - darunter Deutschland - haben sich geschlossen hinter Trumps Vorwürfe gestellt. Moskau müsse "unverzüglich" zu den Bestimmungen des Abkommens zurückkehren, forderten die Nato-Außenminister auf einem Gipfel Anfang Dezember. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte gleichzeitig an, dass das Bündnis sich auf "eine Welt ohne Vertrag" vorbereiten werde. Anfang des Jahres drohte Stoltenberg Russland mit Konsequenzen: Wenn das Land an seinen Marschflugkörpern festhalte, "müsse die Nato darauf reagieren", sagte er und brachte damit eine Aufrüstung in Europa ins Spiel.
Der Schritt der Nato galt allerdings als Kompromiss, um weitere Verhandlungen zu ermöglichen und vorerst einen neuen Rüstungswettlauf zu verhindern. Auf dem Gipfel stand auch ein sofortiger Ausstieg aus dem INF-Vertrag zur Debatte. Dagegen hatten sich vor allem europäische Mitglieder ausgesprochen.
Was steckt hinter dem Streit?
"Bisher ist Trump nicht gerade als jemand aufgefallen, der sich sehr stark für die nukleare Rüstungskontrolle interessiert", sagt Experte Thränert. Als Treiber hinter der Austrittsdrohung gilt der Nationale Sicherheitsberater John Bolton, der Rüstungsbeschränkungen ablehnt. Der Verdacht liege nahe, dass es den USA eher darum geht, die Möglichkeit zu haben, neue Waffensysteme zu bauen und zu stationieren, so Thränert. Oliver Meier von der Stiftung Wissenschaft und Politik nennt Trumps Entscheidung "eine innenpolitisch und ideologisch motivierte Trotzreaktion, die die letzten vertraglichen Begrenzungen im Nuklearbereich schleift, einer nuklearen Aufrüstung den Weg ebnet und die Nato spaltet".
In europäischen Militärkreisen wird vermutet, dass die USA kein großes Interesse an einem Erhalt des Vertrags haben. Washingtons Ziel könnte es sein, das INF-Abkommen durch einen neuen multilateralen Vertrag zu ersetzen, der auch neue Mächte wie China einbezieht. Andererseits könnten die USA aber auch versucht sein, nach dem Ende des Vertrags neue Raketen zu bauen, die der Abschreckung dienen könnten.
Allerdings sind Mittelstreckenraketen ohnehin nicht komplett verboten. Der INF-Vertrag bezieht sich nur auf bodengestützte Systeme. Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte kürzlich, sein Land habe es gar nicht nötig, heimlich landgestützte Raketen mit verbotener Reichweite aufzustellen. "Wenn man uns vorwirft, wir würden diesen Vertrag verletzen, beachtet man nicht, dass es solche Raketen auch in der Luft und auf See gibt", so Lawrow. Dort haben die USA sogar größere Kapazitäten als Russland.
Welche Folgen hätte ein Austritt der USA aus dem Abkommen?
Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sagt, mit dem angekündigten Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag werde die bisherige nukleare Ordnung im Februar 2019 ein Ende finden. Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican) nennt eine mögliche Aufkündigung des INF-Abrüstungsvertrags "äußerst gefährlich". Wenn die USA sich zurückzögen und der Vertrag hinfällig werde, könnten Washington und Moskau die Mittelstreckenraketen an den Grenzen Europas stationieren, so Ican-Direktorin Beatrice Fihn.
Politiker und Experten befürchten einen neuen Rüstungswettlauf, der vor allem Folgen für Europa haben könnte. Für den Kontinent gilt der INF-Vertrag als wichtige Sicherheitsgarantie. Die Aufstellung neuer atomarer Sprengköpfe würde scharfe politische Debatten auslösen, wie es sie auch Anfang der 80er-Jahre nach dem Nato-Doppelbeschluss gab. Thränert verweist jedoch darauf, dass es längst einen Rüstungswettlauf gebe, sowohl bei offensiven, strategischen Systemen mit mehr als 5500 Kilometern Reichweite als auch bei Systemen von weniger als 500 Kilometern Reichweite, worauf insbesondere Russland einen großen Wert lege. "Unabhängig vom INF-Vertrag wird allenthalben, keineswegs nur in Russland und den USA, aufgerüstet", sagt Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz.
Die USA und Russland haben ohnehin bereits angekündigt, dass sie ihre nuklearen Bestände erneuern und ausbauen wollen. Falls der INF-Vertrag aufgekündigt wird, könnten sich die durch Ukraine-Krise und Russland-Ermittlungen bereits belasteten Beziehungen zwischen beiden Ländern weiter verschlechtern. Das könnte Folgen für andere Abrüstungsverträge haben, etwa für die Verlängerung des 2021 auslaufenden New-Start-Vertrages, der die Anzahl strategischer Atomwaffen begrenzt.
Gibt es einen Ausweg aus dem Streit?
Mehrere Treffen beider Seiten blieben ergebnislos, zuletzt der Nato-Russland-Rat am vergangenen Freitag. Es gebe bei dem Thema fundamentale Differenzen, so Stoltenberg. Ein russisches Einlenken gilt als ausgeschlossen. "Die Forderung der USA nach einer vollständigen und nachprüfbaren Vernichtung der Rakete 9M729 ist unannehmbar", erklärte Vizeaußenminister Sergej Rjabkow Mitte Januar. Unwahrscheinlich ist aber auch, dass die USA kurz vor dem Ende der gesetzten Frist klein beigeben, trotz europäischer Bemühungen.
Einen Ausweg könnte aber ein neues Überprüfungssystem bieten. "Wir sind der Auffassung, dass Russland den Vertrag retten kann", sagte Bundesaußenminister Heiko Maas nach einem Treffen mit Lawrow in Moskau. Dazu müsse Russland die Flugkörper nachprüfbar abrüsten. Der Russland-Koordinator der Bundesregierung, Dirk Wiese, sagte, Moskau solle gegenseitige Kontrollen zulassen, um zu beweisen, dass man nicht gegen das Abkommen verstoßen habe. Ischinger ist allerdings skeptisch: "Wenn die Amerikaner ihre Raketenabwehrsysteme in Rumänien und Polen den Russen offenlegen würden und umgekehrt Moskau maximale Transparenz demonstrieren würde, könnte das vielleicht neues Vertrauen schaffen. Aber es deutet nichts darauf hin. Es bräuchte jetzt schon ein Wunder."
Maas brachte aber auch einen neuen Anlauf zur Rüstungskontrolle ins Spiel. Er kündigte für März eine Konferenz in Berlin zur Regulierung neuartiger Waffenarten an. Dabei gehe es etwa um autonome Waffensysteme, Killerroboter und Cyber-Waffen, über die auch Staaten wie China verfügten und die bisher keinen ausreichenden Regeln unterlägen und Teil der internationalen Rüstungskontrolle werden müssten. Eine weitere Möglichkeit wäre, den INF-Vertrag mit mehreren Staaten neu zu verhandeln. Das hat etwa Putin vorgeschlagen. Doch schon 2007 blieb ein entsprechender russischer Vorstoß ohne Folgen. Das Interesse an solchen Gesprächen dürfte etwa in China nicht sehr groß sein.
Quelle: n-tv.de
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