Es ist an diesem Dienstagabend schwer, auf den Platz der Republik in Paris zu gelangen. Nicht, weil sich dort die Massen drängen, um gegen Antisemitismus zu demonstrieren. Sondern weil ein großer Teil des Platzes abgesperrt ist, damit Minister, Abgeordnete, Parteichefs und Ex-Präsidenten, die dort alle an diesem Abend gegen Antisemitismus demonstrieren wollten, in ihren Limousinen vorfahren und auf dem Platz parken können.
"Nein, der Antisemitismus, das ist nicht Frankreich!" So lautet die Parole, unter der an diesem Abend zahlreiche französische Parteien zur Demonstration auf dem Platz der Republik in Paris und 60 anderen Städten des Landes aufgerufen haben. Anlass sind die judenfeindlichen Beschimpfungen, die der Pariser Philosoph Alain Finkielkraut am vergangenen Wochenende am Rande einer "Gelbwesten"-Demonstration über sich ergehen lassen musste.
Das Thema beschäftigt seither die meisten französische Medien und am Dienstag auch den Präsidenten: Nicht weit entfernt vom Platz der Republik legt Emmanuel Macron am Abend eine Kranz vor dem Pariser Holocaust-Denkmal nieder. Livebilder der Szene flackern durch die Cafés am Platz der Republik. Doch viele Demonstranten fragen sich, warum der Präsident nicht mit ihnen demonstriert. Die Älteren von ihnen erinnern an das Jahr 1990, als sich der damalige Präsident François Mitterrand nach der Schändung eines jüdischen Friedhofs einer Demonstration gegen Antisemitismus anschloss.
Auch an diesem Dienstagmorgen wurde wieder ein jüdischer Friedhof geschändet, den Macron am Nachmittag besuchte. Doch das geschah für die Pariser weit weg im Elsass.
"Ich bin hier, weil ich in der Schule viel Unfug höre und viele Mitschüler nicht wissen, was der Holocaust war", sagt der 15-jährige Gymnasiast Mehdi, der sich an ein Absperrgitter drückt, als gerade der ehemalige sozialistische Premierminister Bernard Cazeneuve über den freigeräumten Teil des Platzes Spalier läuft und winkt. Mehdi winkt nicht zurück. Er findet, dass der Platz der Republik dem Volk gehört und man ihn nicht einfach absperren kann.
Für den Rest des Abend bleibt die Menge ruhig, lässt sich ohne Murren an die Ränder des großen Platzes drängen, stimmt erst gar keine Gesänge an, summt nur am Ende leise die Nationalhymne mit. Als wäre man gar nicht auf einer Demonstration, sondern bei einer Staatskundgebung. Und vielleicht soll es genau das sein.
Premierminister Édouard Philippe ist da und sagt: "Wir müssen all diejenigen bestrafen, die infrage stellen, was wir sind." Ex-Präsident Nicolas Sarkozy zeigt Präsenz und sagt: "Der Staat muss mit Härte antworten." Ex-Präsident François Hollande kommt auf den Platz und spricht: "Wir erleben einen Angriff auf die Republik."
So versichern sich neue und alte Würdenträger der Republik an diesem Abend gegenseitig ihre Unterstützung, während das Volk nur Zuschauer ist. Das aber passt nicht zur Ansage auf dem Podium: "Es lebe das sich einige und von allen Ängsten befreite Frankreich", sagt ein Sprecher. Denn das stille Volk auf dem Platz bleibt ängstlich. "Ich fühle mich betroffen, es geht ja schon lange so. Man bringt jüdische Kinder um, man tötet eine alte jüdische Dame, und nun will man einem jüdischen Philosophen das Wort verbieten", sagt eine ältere Frau mit blauer Brille. Sie nimmt Bezug auf das Attentat auf eine jüdische Schule in Toulouse im Jahr 2012, bei dem drei Kinder starben, und dem Mord an der 85-jährigen Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll im vergangenen Jahr in Paris. Die Nebenstehenden stimmen der Frau zu. "Wir haben Angst", sagt eine andere ältere Frau. "Man hat Finkielkraut als Judenangegriffen. Man muss nicht seine Ideen teilen, um davor zu erschrecken." Höflich verbitten sich die Damen, dem Reporter ihre Namen zu nennen. Aber es ist klar: Hier demonstriert die verunsicherte jüdische Gemeinde von Paris.
Dabei soll an diesem Abend alles wieder gut sein. Auch in den Medien, die gewöhnlich kritisch nachfragen, wird an diesem Abend die Zahl der Demonstranten mit etwa 20.000 angegeben - so wie die Organisatoren sie mitteilten. Wahrscheinlich sind es deutlich weniger, aber viele Medien spielen mit. Von einer "dichten Menge" auf dem Platz der Republik ist im privaten BFM-Fernsehen und in der renommierten Zeitung "Le Monde" die Rede. Am 14. Mai 1990 demonstrierten nach Angaben der Zeitung "Figaro" 200.000 Franzosen mit Präsident Mitterrand gegen den Antisemitismus. Davon redet an diesem Abend kein Minister und auch kein Ex-Präsident. Nur die Alten in der Menge tun es. Sie lassen sich nichts vormachen. Langsam gehen sie nach Hause. In den Cafés am Platz laufen bereits die Spiele der Champions League.
spiegel
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