Wie die Jesiden im Irak um ihre Zukunft kämpfen

  06 März 2019    Gelesen: 767
Wie die Jesiden im Irak um ihre Zukunft kämpfen

Konvertiere zum Islam, drohten die Männer. Die jesidische Abgeordnete Gülestan Hassan überlebte den IS – nun steht ihr Volk vor einem neuen Kampf.

Plötzlich prescht der Junge aus einem der Zelte, rennt an seiner Großmutter vorbei auf die Piste, spuckt einen Nachbarsjungen an, hebt ein Gummiband aus dem Staub auf, schlägt das deutlich kräftigere, irritierte Kind damit. Wansa Khalet ruft ihren prügelnden Enkel, was der nicht zu hören scheint, sich nun jedenfalls am T-Shirt eines weiteren, ebenfalls älteren Jungen festkrallt. Die Oma steht verzweifelt auf dem Sandweg: „Was soll ich tun?“

Im Flüchtlingslager Sheikhan im Norden Iraks leben 4600 Jesiden. Vor fast fünf Jahren waren sie vor den Terrormilizen des „Islamischen Staates“, des IS, aus ihrer Heimat an der syrischen Grenze, den Sindschar-Bergen, geflohen. Wansa Khalet, 53 Jahre alt, Bäuerin, ihr Leben dort war nicht einfach, aber geruhsam. Als der IS kam, verschleppte er ihre Familie, sie selbst wurde irgendwann zurückgelassen. „Ich weiß nicht, wo die Kinder sind“, sagt Khalet. „Nur ein Enkel ist da.“

Jesiden sind die Kurdisch sprechenden Anhänger einer vorislamischen Kultur, die mit sieben Engeln und ohne heilige Schrift auskommen. Viele Muslime betrachten Jesiden als Teufelsanbeter. Sie wurden im Osmanischen Reich, unter Iraks Diktator Saddam Hussein, nach seinem Sturz von Al-Qaida verfolgt. In Deutschland hörten viele erst von ihnen, als der IS in Sindschar 5000 Männer und Jungen tötete, 7000 Frauen und Kinder entführte, sie vergewaltigte, folterte, als Sklavinnen verkaufte. Guerilleros der Kurdischen Arbeiterpartei PKK retteten 35 000 Jesiden das Leben – indem sie ausgerechnet ins Kriegsland Syrien einen Fluchtweg freikämpften. Die Vereinten Nationen stufen die IS-Massaker an den Jesiden als Völkermord ein.

Der IS verschleppte den Enkel - statt Kurdisch spricht er Arabisch
Als Zweijähriger ist damals auch der Enkel von Wansa Khalet verschleppt worden. Der Leiter des Flüchtlingslagers sagt, dass vor wenigen Wochen, als der IS seine letzten Hochburgen zu verlieren begann, ein syrisches Paar auf Facebook ein Foto des Kleinen gepostet und sinngemäß geschrieben habe: „Jungen abzugeben“. Das passiere öfter, IS-Sympathisanten wollten verschleppte Kinder, die sie sich im Kalifat wie Haustiere aussuchten, loswerden. Irgendwann, sagt Khalet, habe man ihr den Online-Post gezeigt. Sie glaubte, ihren Enkel zu erkennen. Helfer aus dem Camp hätten Informationen zum Kind eingeholt, schließlich kam der Junge zu ihr.

Mit dem Enkel spricht Wansa Khalet knappes Arabisch, Kurdisch lernte der Junge in IS-Obhut nicht. „Er schläft ganz schlecht“, sagt die Großmutter, „ist dauernd unterwegs.“ Ob sie Angst habe? Khalet zuckt mit den Schultern. Sorge mache ihr, dass der Junge schlecht esse. „Er nimmt nur Fertig-Sandwiches“, sagt Khalet. „Kein Hummus, kein Fladenbrot, kein Reis.“

Das Lager Sheikhan steht unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung in Erbil. Für sie gehört es zur Kurdischen Autonomieregion. Iraks arabisch dominierte Regierung in Bagdad lehnt das ab. Sie rechnet das Camp und die über Jahrhunderte von Jesiden bewohnten Sindschar-Berge der Nachbarprovinz Ninive zu. Und Ninive wird von der einstigen IS-Hochburg Mossul aus regiert. Vor der Stadt fürchten sich die Jesiden, fast 100 000 von ihnen leben immer noch in den vielen Camps und vollen Städten der Kurdischen Autonomieregion. Die meisten halten sich – 70 Kilometer nördlich von Mossul – um Dohuk herum auf, der drittgrößten Stadt in Irakisch-Kurdistan.

Auf Dohuks Straßen scheint die Sonne, gut gelaunte Männer verkaufen Granatäpfel, von Laternen, Dächern und Brücken weht Kurdistans rot-weiß-grüne Flagge. Ein warmer Vorfrühlingssonntag beginnt. Gülestan Hassan hat wenig davon, sie sitzt in einem Büro in der zweiten Etage eines sandfarbenen Hauses, die Vorhänge sind zugezogen. Ein Leibwächter mit Pistole beobachtet vom Balkon aus die Straße, ein zweiter steht vor der Bürotür, ein dritter macht Tee. Warum der Personenschützer den Tee kocht? „Es gibt die Sorge, dass mich jemand vergiftet“, sagt Hassan. Feinde hat sie viele.

Gülestan Hassan ist eine selbstbewusste Frau, Kurdin und Jesidin. Schon damit kommen in den arabischen Städten viele nicht klar. Seit sie aber 2013 ins Parlament von Ninive gewählt wurde, ist ihr Leben in Gefahr. Hassan wird oft sogar von fünf Leibwächtern beschützt. „Der alte IS ist militärisch vielleicht besiegt“, sagt sie, „nun gibt es eben viele kleine IS.“ Und nicht nur die seien eine Gefahr. Muslime berichten, dass Imame predigten, man dürfe die Jesiden ausrotten.

Gülestan Hassan, 36 Jahre alt, Sozialpädagogin, versinkt in ihrem Bürosessel fast. Weil ihr 1,45 Meter Körpergröße nicht reichen, trägt sie 15 Zentimeter hohe Plateauschuhe. Alle drei, vier Minuten klingelt ihr Telefon. Hassans erstes Büro befindet sich im Parlament in Mossul. „Außerhalb Kurdistans“, sagt Gülestan Hassan, „gehört die Verfolgung von Jesiden leider zur sozialen Struktur.“

Manchmal fährt sie morgens gar nicht erst nach Mossul, weil es eine Bombendrohung gibt. Manchmal harrt sie abends im Parlament aus, weil draußen ein Attentat droht. Mit drei Schwestern, fünf Brüdern und ihren Eltern wohnt Hassan in Baadre, einer kurdischen Stadt zwischen Mossul und Dohuk gelegen.

Hassans Partei, die PDK, regiert die Kurdische Autonomieregion. Hier sorgen nicht Bagdads Truppen, sondern kurdische Milizen, die Peschmerga, für Sicherheit. Die Regionalregierung lässt die Predigten in den Moscheen auf Hetze prüfen. Die wenigen im Irak verbliebenen Christen werden in Kurdistan geschützt. Und während anderswo im Land die Morde an in Ungnade gefallenen Frauen oft toleriert werden, gibt es in Kurdistan lebenslange Haftstrafen dafür. In Mossul aber können die Kurden wenig bestimmen. Im dortigen Ninive-Provinzparlament stellt die PDK einschließlich Hassans Mandat neun von 39 Abgeordneten. Und die Muslime in Mossul gelten selbst für irakische Verhältnisse als fanatisch. Als die Millionenstadt 2014 vom IS übernommen wurde, wurde die Miliz von vielen bejubelt.

Das Regionalparlament zog damals nach Dohuk ins Exil. Erst nachdem Iraks Armee, schiitische Milizen und kurdische Verbände die Stadt im Juli 2017 eroberten, tagten die Abgeordneten wieder in Mossul. „Tagsüber gehört Mossul nun der Armee“, sagt Hassan. „Nachts immer noch dem IS.“ Es gibt Männer, die sagten dem Wächter am Parlamentseingang, er möge Hassan ausrichten, dass sie sich umbringen solle. Oder abhauen, konvertieren, mindestens ein Kopftuch tragen. Manchmal bekomme sie Briefe, in denen ihr gedroht wird, sie zu erschießen. Anonyme Anrufer hätten ihren Vater aufgefordert, er solle seine Tochter besser selbst töten – die Anrufer hätten mit Mossuler Akzent Arabisch gesprochen.

Im Camp Sheikhan weiß Wansa Khalet nicht, ob sie mit ihrem Enkel aus dem von den Peschmerga beschützten Lager zurück nach Sindschar ziehen wird. „Ich bin allein und alt“, sagt sie. „Vielleicht nimmt Australien uns beide noch.“ Australien, die Vereinigten Staaten, Kanada, Deutschland sind Sehnsuchtsländer vieler Jesiden. Weil sie in Syrien und Irak, aber auch in der Türkei drangsaliert werden, gewährten westliche Regierungen ihnen Schutz. Vor vier Jahren hatten Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein jesidische Frauen aufgenommen, im April werden 60 Jesiden in Brandenburg erwartet.

Wie barbarisch die Islamisten gegen die Jesiden vorgingen, hat Vian Dakhil, die einzige Jesidin in Bagdads Zentralparlament, in einem Fernsehinterview deutlich gemacht. Vor zwei Jahren berichtete Dakhil, dass eine freigekaufte Jesidin erzählte habe, sie sei drei Tage ohne Nahrung in eine Zelle eingesperrt worden. Am vierten Tag hätten IS-Männer ihr Reis und Fleisch gebracht. Als sie mit dem Essen fertig war, habe man ihr gesagt, sie hätte gerade ihren einjährigen Sohn gegessen.

tagesspiegel


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