Nun, manchmal sind Ergebnisse halt Ergebnisse. Langweilig und ohne gravierende Auswirkungen auf irgendwelche vom umtriebigen Fifa-Chef Gianni Infantino ausgedachten, aufgeblähten oder nur verwalteten Wettbewerbe - außer natürlich auf die Fifa-Coca-Cola-Weltrangliste. Aber egal, wie langweilig und belanglos Ergebnisse bisweilen sind, sie sind halt auch in der "neuen Zeitrechung" des Bundestrainers das Maß, an dem seine Arbeit und die seiner Fußballer gemessen wird. So hatte es sich Joachim Löw vor dem Jahresstart der deutschen Nationalmannschaft selbst auferlegt. Nun endete dieser Jahresstart am Mittwochabend vor 26.101 Zuschauern in Wolfsburg gegen Serbien 1:1 (0:1). Der eingewechselte Leon Goretzka hatte die mit immer mehr Wut und Wucht anrennende DFB-Elf für ihren Aufwand und ihren Chancenwucher mit dem Ausgleich entlohnt (69.), nachdem Frankfurts Luka Jović die Serben früh in Führung geköpft hatte (12.).
Es war frühes ein Gegentor, das die zarte Umbruchliebe auf den Tribünen rasant in Ablehnung umschlagen ließ. Zu umständlich bemühte sich die Mannschaft fortan um Dynamik und Tiefe, zu fahrig wurde das eigene Tor verteidigt. "Man hat in der ersten Halbzeit gemerkt, dass die Automatismen noch nicht so da sind", analysierte Löw. "In der zweiten Halbzeit hat die Mannschaft aber ein gutes Signal ausgesendet." Im Akkord inszenierten nun der ebenfalls eingewechselte Marco Reus und Leroy Sané Attacken auf das serbische Tor. Der Ertrag - spärlich wie eine Dürreernte, honoriert allerdings von den Zuschauern, die zur Pause noch unversöhnlich gepfiffen hatten. "Es fehlt uns - und das zog sich auch schon durch das letzte Jahr - die Konsequenz im Torabschluss", urteilte Löw. Aber das sei eben auch ein Erfahrungsprozess. Die deutsche Mannschaft in der Einzelkritik.
Manuel Neuer: Als einer der wenigen 2014er-Weltmeister ist der Torwart noch immun gegen die neue, weltmeisterfressende Zeitrechnung des Bundestrainers. Stand gegen die Serben als Letzter seiner Art in der Umbruch-Startelf. Und die sollte ja bereits ausgerichtet sein auf den so wichtigen EM-Qualifikationsstart gegen die Niederlande am Sonntag in Amsterdam. Könnte also bedeuten, dass der Kapitän der DFB-Elf den offenen Konkurrenzkampf gegen seinen Herausforderer Marc-André ter Stegen gewonnen hat. Warum er unbedingt die Nummer eins bleiben sollte, das konnte er in seinem 85. Länderspiel nicht nachweisen. Ein Schuss (präziser: ein Kopfball) auf sein Tor - drin, machtlos. Eine weitere Top-Gelegenheit der Serben drückte DFB-Debütant Lukas Klostermann gerade noch rechtzeitig gegen Jović weg. Eine andere senste Adem Ljajić freistehend aus 14 Metern jämmerlich über die Latte. Bitter für Neuer: Es gab einfach nichts zu halten, obwohl seine Vorderleute einiges dafür taten, dass es etwas zu halten hätte geben müssen. Marc-André ter Stegen: Von wegen Entscheidung und so'n Quatsch. In der zweiten Hälfte spielte planmäßig der Torwart des FC Barcelona. Und womöglich wähnte er angesichts der Wackelabwehr ein Fest der Empfehlungen für seine Expertise. Aber pah! Ein gefährlich flatterndes, aber souverän entschärftes Flankenschussmischmasch (89.) und ein paar sicher an den Mann gebrachte Pässe - das war's. Erkenntnisgewinn für den Bundestrainer: keiner.
Marcel Halstenberg: Als Joachim Löw vor dem Serbien-Spiel angekündigt hatte, auf Experimente verzichten zu wollen, da hatte wohl niemand gedacht: Aha, der Halstenberg macht's. Aber so kam's. Und der Außenverteidiger damit zu seinem zweiten Länderspiel - in einer völlig anderen Epoche des deutschen Fußballs. Debütiert hatte er nämlich damals, am 10. November 2017 in Wembley an der Seite von Mesut Özil und Sandro Wagner. Er überzeugte, inszenierte über seine linke Seite mehr Angriffe als Joshua Kimmich, damals noch rechts hinten beheimatet, und leistete sich auch keinen Patzer, der in Erinnerung blieb. Dass er dennoch knapp anderthalb Jahre auf seine Rückkehr ins DFB-Team warten musste, lag an seinem Kreuzband. Das war kaputt. Nun aber, so hatte uns Löw beschieden vor dem Spiel, sei Halstenberg wieder in "einem guten Rhythmus". Was auch immer der Bundestrainer damit meinte, ab und zu schlechtes Stellungsspiel sowie ab und zu unpräzise Flanken wohl nicht. So hat Halstenberg nun eben ein gutes und ein nicht so gutes Länderspiel in seiner Vita.
Jonathan Tah: Bildete an der Seite von Abwehrchef Niklas Süle die womöglich imposanteste deutsche Innenverteidigung seit Robert Huth und Per Mertesacker im Juni 2005. Doch so wuchtig dieser Tah daher kommt, so unwuchtig spielte er in der ersten Minute einen Pass zurück ins Nirgendwo. Dieser Ball war so absurd schlecht gespielt, dass selbst die serbischen Stürmer nicht bereit waren nachzusetzen. Richtig sicher wirkte der 23-Jährige in seinem 5. Länderspiel auch fortan nicht. Beim 0:1 stand er noch weiter weg von Jović als Süle. Und der stand sehr weit weg. Hatte seine spektakulärste Szene, als er eine serbische Flanke im Strafraum per Hackenvolley entschärfte (76.).
Niklas Süle: Der Mann, der beim FC Bayern wahlweise Mats Hummels oder Jérôme Boateng auf die Bank verdrängt, ist ab sofort Abwehrchef der Nationalmannschaft. Das hatte der Trainer vor dem Jahresauftakt entschieden. Süle, so hatte Löw gesagt, könne einer der Stabilisatoren "der neuen Defensive" werden. Und nach sieben Minuten in seinem 17. Länderspiel zeigte der 23-Jährige, was ihn dazu befähigen wird. Wie weiland Hummels und Boateng heldengrätschte er Danko Lazović im Vollsprint den Ball vom Fuß. Dieser Süle, der ist schon schnell. Aber nicht so schnell, um sich nicht von einem 35-jährigen Ex-Dortmunder und Ex-1860er (Antonio Rukavina) auch mal amtlich überlaufen zu lassen. Eine überraschende Szene, die sich in der Summe aber weit weniger dramatisch ausnahm als sein sehr luftiges Verteidigen beim 0:1. Was sowohl Süle als auch Tah im Gegensatz zu ihren Ruhestands-Vorgängern abgeht: kaiserliche Diagonalbälle für die schnelle Spieleröffnung.
Lukas Klostermann: Die "Süddeutsche Zeitung" fühlt sich beim ehemaligen Rechtsverteidiger des VfL Bochum an Philipp Lahm erinnert. Wie der mutmaßlich beste Außenverteidiger des deutschen Fußballs kann auch der Leipziger links wie rechts spielen, ohne dass seiner Mannschaft ein Nachteil entsteht. Er kann tatsächlich unaufgeregt verteidigen, sehr schnell nach vorne laufen, Bälle in den Lauf seiner Mitspieler chippen oder auch mal einen per Hacke ablegen. Der 101. Debütant in der Ära Löw darf weitermachen. Unbedingt sogar. Thilo Kehrer: Als Klostermann sich irgendwas am Knöchel tat, half Kehrer gerne aus. Es reichte aber nur für die Nachspielzeit - über sein fünftes Spiel für den DFB darf er sich dennoch freuen. Glückwunsch.
Joshua Kimmich: Er stemmte sich im vergangenen Sommer in Russland vehement gegen die WM-Peinlichkeit. Um alle die Missstände im deutschen Spiel mit seiner Dynamik, seiner Spielintelligenz und seinem Ehrgeiz zu kitten, verließ er (unabgesprochen) regelmäßig den Platz hinten rechts. Den ist er mittlerweile offiziell los. In der neuen Zeitrechnung bewegt sich Kimmich auf der "Sechs", wo er mit seiner Dynamik, seiner Spielintelligenz und seinem Ehrgeiz so eine Art Schweinsteiger-Kroos-Khedira ist. Kimmich diente den spielaufbaubetreuungsintensiven Innenverteidigern gegen Serbien als wichtiger Adjudant im Ballvortrieb. Er scheut sich nach wie vor auch nicht, Schiedsrichtern und Gegenspielern seine 1,76 Meter vehement in den Weg zu stellen, um mal Klartext zu reden. Ein echter Leader.
Ilkay Gündogan: Die beste Nachricht rund um Ilkay Gündogan ist: Das in Deutschland heftig kritisierte Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan aus dem letzten Jahr scheint kein Thema mehr. Weder wird der Spielmacher von Manchester City noch mit wütenden Pfiffen bedacht, noch spielt er so gehemmt wie in den Wochen nach der ausschlagenden Affäre. Gündogan spielt derzeit so, wie Gündgon spielen kann: mit Übersicht, mit Technik, mit Raffinesse. Sein Trainer Josep Guardiola ist sogar so besessen von den "unglaublichen" Leistungen des 28-Jährigen, dass er sich dessen vorzeitige Vertragsverlängerung über 2020 hinaus wünscht. Die könnte auch der DFB anstreben und den Mittelfeldspieler so gegen die nächste Umbruchwelle immunisieren. Seine Ruhe am Ball, seine Spielverlagerungen, seine Pässe in die Tiefe und Breite sind ein Qualitätspaket, was so nicht viele deutsche Nationalspieler vorweisen können. Nur am Torabschluss, da kann der 30-malige Nationalspieler, der in der zweiten Halbzeit Kapitän der Mannschaft war, gerne noch hart an sich arbeiten. Wie er den Ball in der 65. Minute noch in die heranfliegende Grätsche von Nikola Maksimovic statt ins leere Tor schießen konnte, heiliger Bimbam ...
Leroy Sané: Nun, er polarisiert. Mehr neben als auf dem Feld. Dennoch darf sein Spiel ebenso wie seine in diesen Tagen medial sehr intensiv aufgearbeitete Lederfelljacke der Machart "Graffiti für Anfänger" durchaus als Geschmackssache gewertet werden. In guten Momenten wirkt seine lässige Art beeindruckend spektakulär, in schlechten Moment arrogant, bisweilen lustlos. Gegen Serbien war er 30 Minuten nicht präsent, weil seine Mitspieler ihn auf Linksaußen kaum ins Spiel brachten, frustriert wechselte er die Seite - mit mehr Ballzeit fortan, aber mit kaum mehr Ertrag. Bis zur Halbzeit. Dann kam Marco Reus. Und mit ihm Dynamik. Eine gute Sache für einen dynamischen Spieler wie Sané. Mit jeder neubeginnenden Minute wurde der 23-Jährige besser, dribbelte links über den Platz, dribbelte rechts über den Platz, dribbelte von links nach rechts über den Platz. Zu bremsen nur mit leichten Fouls (viele), mittelschweren Fouls (und anschließender Rangelei) oder brutalen Fouls (Rot gegen Milan Pavkov, 93. Minute) - oder zwei Paraden von Marko Dmitrovic, die waren indes nicht spektakulär, weil die Abschlüsse doch zum Verzweifeln harmlos waren. Sané selbst war mit seinem 18. Länderspiel dennoch "ganz zufrieden." Nico Schulz: Kam in der 96. Minute, weil Sané nach Pavkovs Attacke nicht mehr laufen konnte (vorübergehend, wie Sané später erklärte). Ob der Hoffenheimer eine Ballberührung hatte? Unklar. Eher unwahrscheinlich.
Kai Havertz: Der Junge ist 19 Jahre alt. Er spielt elegant und ist torgefährlich. Die "Welt" sieht in ihm eine nahezu einzigartige Mischung aus Michael Ballack und Mesut Özil. In 34 Spielen für seinen Klub Bayer Leverkusen hat er in dieser Saison 13 Tore geschossen und 7 vorbereitet. Das ist bemerkenswert gut. Regelmäßig haben die Topklubs ihre Scouts in den Stadien, in denen Havertz vorspielt. Die Spielbeobachter in Wolfsburg dürfen für sein drittes Länderspiel notieren: Ein harmloser Abschluss (3.), ein feiner Pass auf Timo Werner (22.), kein gewonnener Zweikampf und eine Auswechslung zur Halbzeit. Marco Reus: Womöglich war seine Nicht-Nominierung für die Startelf die größte Überraschung von Löw. Und eine Fehleinschätzung. Denn mit Reus kam Rhythmus. Mit Reus kam Rock'n Roll. Mit Reus rappelte es. Jeder Angriff der Deutschen war nun eine kreative Befreiung aus dem monotonen Löcher-suchen-wo-keine-Löcher-sind-Gestottere der ersten 45 Minuten. Ein Tor wäre möglich gewesen, hätte er sein sensationelles Dribbling in der 59. Minute nicht mit einem Schuss direkt auf Dmitrovic beendet.
Julian Brandt: Er hatte schon bessere Spiele in Wolfsburg als dieses persönlich viel zu umständliche und fehlerhafte am Mittwochabend. Ganz sicher. Zum Beispiel als Spieler der U17 oder U19 des VfL. So wurde nämlich Bayer Leverkusen auf ihn aufmerksam und formte ihn zu seinem Spieler, der nun offenbar sogar für Real Madrid interessant geworden ist. Und offenbar traut sich der 22-Jährige große Aufgaben zu. Über die drei ausgemusterten Weltmeister Hummels, Boateng und Müller sagte er vor dem Serbien-Spiel: "Sie haben mit ihrer Körpersprache andere Spieler mitgerissen und den DFB über Jahre super repräsentiert". Das sollen jetzt andere tun. "Wir haben die Persönlichkeiten, die das schaffen werden. Wir kriegen das Führungsthema hin." Leon Goretzka: Ein Mann für die "Acht". Kam in der 56. Minute für Brandt, verirrte sich regelmäßig auf den Flügel, was wirkungslos war. Besetzte der Münchener den Raum zwischen Mittelfeld und Sturm, wurde es entweder strategisch klug oder gefährlich. Zwei gefällige Vorbereitungen und dann das Tor. Elegant ließ Goretzka seinen Gegenspieler nach Pass von Reus aussteigen, um dann wuchtig zu vollenden.
Timo Werner: Der Stürmer von RB Leipzig soll sich in "intensiven Verhandlungen" mit dem FC Bayern befinden. Das berichtet der "Kicker." Belassen wir es doch dabei, denn über seine Leistung in der Volkswagen-Arena wird ab morgen wohl nie mehr geredet werden: Eine kläglich vergebene Chance in der 22. Minute und eine noch viel kläglicher vergebene Möglichkeit in der 37. Minute - so lesen sich die "Highlights" im Verlaufsprotokoll seines 24. Länderspiels.
Quelle: n-tv.de
Tags: