Die EU hat eine der strengsten Chemikalienrichtlinien weltweit. Eigentlich müssten die europäischen Behörden also besonders schnell reagieren, wenn sie Substanzen als schädlich erkennen. In der Realität aber dauert es teilweise mehr als zehn Jahre, bis der Einsatz einer problematischen Chemikalie beschränkt wird.
So ist es beispielsweise bei Butanonoxim: Im Jahr 2013 entschied die EU-Chemikalienbehörde Echa, die Substanz einer erweiterten Prüfung zu unterziehen. Zuständig war die deutsche Bundesstelle für Chemikalien (BfC), die im Juni 2014 ihren 126 Seiten starken Bewertungsbericht vorlegte. Der Stoff, der vor allem Holzlasuren und Lacken beigemischt wird, ist demnach möglicherweise krebserregend, Verbraucher sollten damit nicht in Kontakt kommen. Die bisherige Gefahreneinstufung muss auf Basis des Berichts verschärft werden.
Die Deutschen erstellten ein wissenschaftliches Dossier und reichten es zur Diskussion auf EU Ebene ein, im September 2018 nahm das entsprechende Gremium dann endlich Stellung. Verschärfte Sicherheitsbedingungen sollen für Butanonoxim aber frühestens in diesem Jahr gelten.
Butanonoxim ist keine Ausnahme, wie ein Bericht des Europäischen Umweltbüros EEB jetzt zeigt. Das EEB, ein Dachverband von rund 150 Umweltorganisationen in ganz Europa, hat analysiert, wie gründlich die EU-Chemikalienverordnung umgesetzt wird. Vor allem, wie schnell als problematisch erkannte Stoffe reguliert werden.
Rund 24.500 Chemikalien sind derzeit für den Einsatz in Europa registriert, sie werden beispielsweise verwendet in Lacken und Verdünnungen, in Pestiziden und Kunststoffen, in Druckertoner, Beschichtungen oder Flammschutzmitteln. Jedes Jahr wählt die EU Chemikalien aus, die sie einer erweiterten Prüfung unterzieht, weil die Stoffe im Verdacht stehen, schädlich zu sein. Insgesamt standen Ende vergangenen Jahres 352 Chemikalien auf der Prüfliste.
Die Ergebnisse der Prüfungen sind laut der EEB-Auswertung ernüchternd: Bis Dezember wurden lediglich 94 potenziell besorgniserregende Stoffe vollständig untersucht - 46 davon befanden die Wissenschaftler als für die derzeitige Verwendung in der EU nicht sicher. Das ist jeder zweite. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass bei diesen potenziell gefährlichen Stoffen weitere Schutzmaßnahmen erforderlich sind.
Aber nur für zwölf dieser Chemikalien leiteten die EU-Behörden tatsächlich entsprechende Schritte ein. Die restlichen 34 Stoffe bergen nach Ansicht der Wissenschaftler zwar Gefahren - aber strengere Regeln sind für sie bis heute nicht erlassen. Diese Stoffe sind also in der EU zugelassen, obwohl bekannt ist, dass ihre Verwendung für EU-Bürger und/oder die Umwelt nicht sicher ist.
Das EEB spricht von einem Versagen der europäischen Regierungen und warnt vor dramatischen Folgen: Die weitverbreitete Chemikalienbelastung trage zu einer "stillen Pandemie" von Krankheiten bei, heißt es in dem Bericht, ein Begriff, den Baskut Tuncak, der Uno-Sonderberichterstatter für gefährliche Stoffe und Abfälle benutzte, als er im Oktober vor der Uno-Generalversammlung sprach.
Dabei sind die Behörden nicht mal unwillig. Der Prozess ist einfach sehr langwierig: Nur einmal jährlich entscheiden die Mitgliedstaaten darüber, welche Substanzen sie genauer prüfen. Danach haben sie ein Jahr Zeit für die Bewertung. Liegen nicht genug Daten vor, fordern sie weitere Informationen von den Herstellern an. Bis diese geliefert werden, vergeht regelmäßig viel kostbare Zeit. Im vergangenen Jahr stellte die EU-Chemikalienbehörde Echa in einem Fortschrittsbericht fest, dass bei 74 Prozent der Angaben "wichtige Sicherheitsinformationen" fehlen. Insgesamt zieht sich das Verfahren für einen einzelnen Stoff sieben bis neun Jahre. Bis dann möglicherweise schärfere Regeln greifen, dauert es weitere fünf bis sieben Jahre.
Vom Verdacht, dass eine Chemikalie unsicher ist, bis die EU-Behörden strengere Kontrollen beschließen, können so bis zu 16 Jahre vergehen, in denen der Stoff in die Umwelt gelangen kann.
Die Chemieexpertin des EEB, Tatiana Santos, nannte die Ergebnisse der Analyse sehr beunruhigend. "Millionen Tonnen gefährlicher Stoffe werden unsicher in Konsum- und anderen Produkten verwendet und gelangen in die Umwelt". Sie fordert von der Chemieindustrie, schon bei der Registrierung eines neuen Stoffs alle Daten zu liefern. Im Zweifelsfall, so Santos, sollten Unternehmen vom Zugang zum europäischen Markt ausgeschlossen werden.
Das EEB hat seinen Bericht bewusst zum 2. April veröffentlicht, denn an diesem Dienstag beginnt die Uno mit Gesprächen darüber, die Chemikaliensicherheit bis 2020 deutlich zu verbessern. Die EU hat sich zu diesen freiwilligen Zielen bekannt - allerdings hat die EU-Kommission bereits eingeräumt, dass sie die nicht erreichen wird.
spiegel
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