Der bislang komplett misslungene so genannte Brexit könnte dem Projekt Europäische Union (EU) noch wesentlich mehr Schaden zufügen, als es durch die bloße Entscheidung 2016 bereits geschehen ist. Es deutet sich immer mehr an, dass daran gearbeitet wird, das Brexit-Referendum auszuhebeln. Diejenigen, die seinerzeit zu ihrer großen Überraschung unterlagen, obwohl multimedial der Eindruck erzeugt wurde, das Nein zu einem Brexit sei eine Art Formsache, haben ihre Niederlage nie akzeptiert. Verbissen arbeiten sie daran, die Entscheidung vom 23. Juni 2016 rückgängig zu machen. Wenn das gelingen sollte, würde das nicht nur von den Briten als schwerer Vertrauensbruch im Hinblick auf die Gültigkeit demokratischer Entscheidungen in der EU aufgenommen werden.
Zunächst wurden die Intelligenz der Brexit-Befürworter in Frage gestellt und die Wähler beschimpft und denunziert. Dabei taten sich besonders junge Wählerinnen und Wähler hervor, die vom Diebstahl ihrer Zukunft redeten, aber zugeben mussten, dass sie dem Referendum ferngeblieben waren. Dann wurden Verschwörungstheorien über angebliche russische Manipulationen verbreitet.
Die tatsächlich nachgewiesenen Einmischungen der vom US-amerikanischen Milliardär Robert Mercer gegründeten und finanzierten Firma Cambridge Analytica wurden und werden beharrlich ignoriert. Die Verhandlungen der britischen Regierung mit der EU über einen geregelten Brexit werden unermüdlich sabotiert, sowohl aus Kreisen der britischen als auch der EU-Politik. Und über allem schweben die unablässigen Forderungen nach einem neuen Referendum. Nun könnte die Verschleppungstaktik dazu führen, dass Fakten geschaffen werden, die als eine Art Drehtür zurück in die EU führen.
Wahrscheinliche britische Teilnahme an EU-Wahl vergrößert Chaos und Frust
Durch die erneute Verschiebung des Brexit-Termins, diesmal in den Herbst 2019, ist das Vereinigte Königreich gezwungen, entweder an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen oder aber bis zum 23. Mai 2019 entweder das Austrittsabkommen mit der EU zu ratifizieren, was wegen der Nordirland-Frage für Großbritannien unannehmbar ist, oder aber im Zweifel einen ungeregelten Austritt aus der EU hinzunehmen. Das Chaos, das durch dieses Hin und Her angerichtet wurde, verärgert viele EU-Regierungen und ihre Wählerinnen und Wähler. Denn nun wird das EU-Parlament nicht mehr auf 705 Abgeordnete schrumpfen, sondern bleibt bei seiner heutigen Größe von 751 Sitzen. Damit fallen beispielsweise fünf Mandate weg, die französische Parteien eigentlich schon fest für sich als Zuwachs eingeplant hatten. Befürchtet wird aber vor allem, dass britische Abgeordnete den Parlamentsbetrieb sabotieren könnten, was vor allem der als renitenter Brexiteer bekannte Tory-Abgeordnete Jacob Rees-Moog bereits angedroht hat.
Doch vielleicht ist die Aufregung über das britische Gezerre in der EU auch nur gespielt. Denn Rees-Moog und andere Brexit-Anhänger sind deshalb verärgert, weil sie schon eine Weile den Verdacht haben, dass von der EU ganz bewusst auf Zeit gespielt wird. Dazu gehört auch das gezielte Eskalieren des eigentlich absurden Szenarios, dass Großbritannien an einer Wahl für eine Institution teilnehmen soll, die es doch verlassen will. Möglicherweise spekuliert man in Brüssel und anderenorts darauf, dass die Wahl zu einem Ersatzreferendum werden könnte. Nicht nur bei den Verlierern des Referendums von 2016 ist der Frust über den bisherigen Fortgang der Dinge groß, sondern auch bei den seinerzeitigen Gewinnern. Die Hoffnungen für ein Aushebeln des Brexit-Votums durch die Hintertür der EU-Wahlen sind nicht ganz unbegründet.
Das zweitgrößte Markt- und Meinungsforschungsinstitut der Welt, die Kantar-Gruppe hat im April 2019 im Auftrag des Europäischen Parlaments eine neue Wahlprognosevorgestellt, die nun berücksichtigt, dass das Europäische Parlament nicht kleiner wird, sondern seine Größe von 751 Abgeordneten behält. Basierend auf den neuesten Vor-Wahl-Umfragen in allen EU-Mitgliedsstaaten, die von Kantar ausgewertet wurden, müssen sich die beiden bislang größten Fraktionen der Konservativen und der Sozialdemokraten keine Sorgen mehr machen, dass sie ihre Mehrheiten verlieren werden und damit nicht mehr den Kurs der EU bestimmen.
Vor allem aber könnte ein deutlicher Sieg der Labour-Partei als Signal für ein Verbleiben Großbritanniens in der EU oder aber wenigstens für ein zweites Referendum gewertet werden. Alle verfügbaren Umfragen, wie die neueste der Firma Hanbury Strategyfür die Lobby Organisation Open Europe, sprechen ganz klar dafür, dass Labour die EU-Wahl in Großbritannien mit deutlichem Abstand gewinnen könnte.
Genau das ist die Befürchtung der Brexit-Befürworter, aber auch von anderen Kritikern der EU, so wie sie derzeit verfasst ist. Denn mit einem Wahlsieg von Labour und einer erwarteten demütigenden Niederlage der Tories bei den Wahlen im Mai 2019 könnte ein so genannter Soft Brexit Wirklichkeit werden. Der bedeutet ein Verbleiben in Binnenmarkt und Zollunion der EU, sowie Unterwerfung unter die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes für einen Übergangszeitraum. Doch das könnte auch in einen Total-Stopp des Brexit münden, also eine Rücknahme der Austrittserklärung nach Artikel 50 des EU-Vertrages oder aber in ein neues Referendum. Das ist keine alberne Verschwörungstheorie, sondern so vom Unterhausabgeordneten Keir Starmer am 26. August 2017 in der britischen Zeitung „The Guardian“ niedergeschrieben worden. Starmer gehört zum so genannten Schattenkabinett von Labour-Chef Jeremy Corbyn.
Bei diesem Szenario gibt es nur einen Schönheitsfehler. Wahlen zum Europäischen Parlament sind in Großbritannien ungefähr so beliebt wie Fußpilz oder Mundgeruch. Bei der letzten Wahl von 2014 gingen lediglich 36 Prozent der Wahlberechtigten im Königreich in die Wahllokale. Selbst wenn Labour und damit die Fraktion der „Remainer“ im Mai 2019 einen haushohen Sieg einfahren würden, wäre der bei einer so niedrigen Wahlbeteiligung eher wertlos und tückisch. Denn so würden alle Aussagen der Lächerlichkeit preisgegeben, wonach eine Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU ist. Damit wäre die Verlogenheit der bisherigen Argumentation der Brexit-Gegner offenkundig. Denn sie beklagen ja bis heute, dass das Referendum von 2016 nicht repräsentativ und bindend sei, weil es angeblich so knapp gewesen wäre.
Doch das ganze Gegenteil ist der Fall. Die Teilnahme am damaligen Volksentscheid war mit über 72 Prozent eine der höchsten Teilnahmen bei Wahlen in Großbritannien. Schon die Unterhauswahlen ein Jahr nach dem Referendum hatten schon wieder eine deutlich niedrigere Beteiligung. Die Mehrheit der Brexit-Befürworter war am 23. Juni 2016 klar und eindeutig und betrug deutlich mehr als eine Million Stimmen. Für die „Remainer“ und die Strategen eines Brexit-Roll-Backs ist es also von entscheidender Bedeutung, dass bei den EU-Wahlen 2019 eine hohe Wahlbeteiligung registriert wird. Dafür werden alle Register gezogen.
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