Die Wirtschaftswissenschaftler, die sich seit nunmehr vier Jahrzehnten ehrenamtlich darum bemühen, dass eben nicht nur die bekannten Institute ihre immer gleichen, formelhaften Verkündigungen darüber verbreiten können, welche ökonomische Zukunft diese Republik hat und welche ökonomischen Richtungsentscheidungen von der Politik getroffen werden sollten, teilen das gleiche Schicksal wie viele andere, die mit voller Absicht aus dem Mainstream ausscheren. Sie werden zumeist eisern ignoriert. Oder absichtlich falsch verstanden und dann als ökonomische Spinner diffamiert.
Das hat zum erheblichen Teil mit dem Umstand zu tun, dass in vielen Redaktionen dieses Landes ökonomischer Sachverstand Mangelware ist und deshalb Wirtschaftsthemen für viele Redakteure ein echter Horror sind. Nur zu gerne wird deshalb nachgebetet, was Wirtschaftsforschungsinstitute und vermeintliche Weise vorgeben. Und leider bestimmt in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Lobby der dogmatischen neoliberalen Schule die Sprachregelung in beinahe allen bedeutenden deutschen Medien. Von der beinahe flächendeckenden neoliberalen Dogmatik an deutschen Universitäten und Hochschulen gar nicht zu reden, die sicherstellt, dass in Medien zumeist die Verfechter der marktradikalen bzw. marktfixierten „Experten“ die Deutungshoheit besitzen und andere Sichtweisen und Argumente kaum durchdringen.
Mehrheit der Medien ignoriert das „Memorandum“, aber es verhallt nicht ungehört
Das Team der Ökonomen, die sich in der in Bremen beheimateten „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ zusammengeschlossen haben, ist sich dieser Don-Quichotte-Situation durchaus bewusst, also dass sie in Bezug auf die mediale Aufmerksamkeit oft das Gefühl haben, mit ihrem „Memorandum“ gegen Windmühlen zu kämpfen. Spätestens aber nachdem sich der bundeseinheitliche Mindestlohn durchgesetzt hat, den sie jahrelang gefordert hatten, war das für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Signal, dass sie möglicherweise keine offiziellen Reaktionen zu erwarten haben, dass sie aber keineswegs ungehört bleiben. So jedenfalls sieht es Prof. Dr. Mechthild Schrooten von der Hochschule Bremen, die im Vorstand der als Verein organisierten Arbeitsgruppe aktiv ist.
Deutschlands Problem ist eines von Verteilungsungerechtigkeit
Ihrer und der Überzeugung ihrer Kolleginnen und Kollegen zufolge lässt sich nur noch mit viel Ignoranz negieren, dass nicht nur Deutschland ein strukturelles Problem hat. Allerdings nicht in dem Sinne, wie die großen Wirtschaftsforschungsinstitute dies immer definieren. Nach Überzeugung der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ist das strukturelle Problem, dass nicht nur Deutschland, sondern die ganze Europäische Union (EU) zu zerreißen droht, eines zwischen Oben und Unten, ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit, das mittlerweile alle gesellschaftlichen Bereiche infiziert hat, selbst solche, die nicht auf den ersten Blick damit in Verbindung gebracht werden:
„Wir sehen, es zieht sich durch diese gesamte Gesellschaft, durch Europa, durch Deutschland, ein Riss, der entlang der Linie geht, es gibt eine Verteilung von Unten nach Oben. Und diese Verteilung hat inzwischen so viele Facetten, dass sie ankommt in den verschiedensten Bereichen. In Europa als Nationalismus. Im Bereich Wohnen ganz klar als Wohnungsnot. Im Bereich Klima als Klimakollaps. Denn auch die Klimapolitik ist ein Teil der Verteilungspolitik.“
Die Art wie westliche Industriestaaten wirtschaften und konsumieren bzw. konsumieren lassen, hat zu einem Raubbau an den Ressourcen dieses Planeten und zu einer gefährlichen Instabilität seiner fragilen natürlichen Prozesse geführt, deren genaue Wirkungsweisen die Menschheit eigentlich erst in den Ansätzen versteht, und manche nicht mal auf diesem Niveau. Die Arbeitsgruppe spricht in ihrem Memorandum 2019 von nichts geringerem als einem Klimakollaps.
Klimakollaps ist greifbar, aber auch eine Chance für die EU, sich „neu zu erfinden“
Für Prof. Mechthild Schrooten liegt aber selbst in dieser niederschmetternden Feststellung der Keim für einen Neuanfang:
„Der Ansatz zu einer neuen Klimapolitik könnte der Ansatz für ein neues Europa sein. Es könnte so sein, dass Europa sich über eine gemeinsame Klimapolitik neu erfindet, neu definiert, die EU hier ein neues Narrativ findet, eine neue Legitimation.“
Doch für derartige epochale Umbrüche müsste die EU zunächst und vor allem ein Dogma ablegen, das wie ein Virus die Gesellschaft befallen hat und in weiten Teilen wie ein religiöses Mantra funktioniert, wie man es aus Kirchen kennt. Diese Dogmen haben sich mit ihrem vergifteten „Neusprech“, wie in Orwells Klassiker „1984“ in die Gehirne vieler Menschen, ja ganzer Generationen eingebrannt, die mit nichts anderem als den immer gleichen neoliberalen Einflüsterungen aufgewachsen sind.
Mit Phrasen von der Notwendigkeit eines „schlanken Staates“, von der „Verkrustung“ staatlicher Strukturen, die nur von „den Kräften des Marktes und des Wettbewerbes“ wieder gesunden könnten, vor allem aber mit der Doktrin der „Verantwortung des Einzelnen“ für sein Leben, die dazu benutzt wird, den Staat von der Verantwortung zu entbinden, für eine gewisse Planbarkeit eines Lebens und gleichwertige Lebensbedingungen und Chancengleichheit zu sorgen.
„Schuldenbremse“ als Entschuldigung für Ausgabenreduzierungen
Zu den neoliberalen Worthülsen zählt auch die „Schuldenbremse“. Für Prof. Mechthild Schrooten ist es eine tückische Wortschöpfung:
„Diese Schuldenbremsen sind heute Argumente dafür, dass man bestimmte Politikbereiche vernachlässigt. Der Staat hat eine Zielfunktion und kann von dieser Zielfunktion ableiten, was noch zu finanzieren ist und was nicht mehr zu finanzieren ist.“
Mit diesem Trick wird der Staat seiner Funktion als das bestimmende gestaltende Element einer Gesellschaft beraubt, um die Herrschaft von Partikularinteressen von Minderheiten durchzusetzen, vornehmlich das Funktionieren einer Mehrheitsgesellschaft den Profitinteressen einer schmarotzenden Minderheit unterzuordnen.
Alle Lebensbereiche werden so zu Profitcentern, die Gewinn erwirtschaften müssen. Tun sie das nicht, werden sie eliminiert, verkleinert oder aber pervertiert. Denn ein gesellschaftlicher Bereich wie beispielsweise die menschliche Gesundheit, die Pflege von Menschen kann nur zu einem ganz bestimmten Preis auf Gewinnerwirtschaftung getrimmt werden. Zum einen für den Preis der rücksichtslosen Ausbeutung der in diesen Bereichen Beschäftigten. Zum anderen durch für den Preis der gnadenlosen Reduzierung von Patienten und Pflegebedürftigen zu reinen Kostenfaktoren. Das Ergebnis sind asoziale Arbeitsverhältnisse und entmenschlichte Pflege.
Der Pflegenotstand wird sich nicht mit privatwirtschaftlichen Mitteln lösen lassen
Für Prof. Dr. Heinz-J Bontrup, Arbeitsökonom an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, steht fest, dass der prognostizierbare Anstieg von Pflegebedürftigen mit privatwirtschaftlichen Rezepten nicht zu lösen sein wird, sondern sich erweisen wird, dass der Gesundheitsbereich zu jenen Feldern unseres Alltages gehört, der öffentliches Gut der Daseinsvorsorge ist, das sich nur bedingt mit rein betriebswirtschaftlichen Mitteln bewältigen lässt.
„Das kann man nicht privatwirtschaftlich lösen, das schaffen die Menschen nicht, vor allen Dingen dann nicht, wenn sie zuvor eine Erwerbsbiographie haben, die mehr als prekär war, die gekennzeichnet ist von kurzen Beschäftigungszeiten in Teilzeit, von längeren Arbeitslosenzeiten.“
Verlogenes Wehklagen der Eliten wegen der Wohnungsnot
Auch die dramatische Krise auf dem Wohnungsmarkt ist für Heinz Bontrup Ausdruck des grundlegenden Verteilungsproblems in Deutschland. Und der toxischen Wirkung, die die neoliberale Phraseologie der vergangenen Jahrzehnte verursacht hat und wie eine Gehirnwäsche wirkt. Denn ansonsten würde viel mehr zu Recht empörten und verunsicherten Menschen auffallen, was Bontrup wie folgt formuliert:
„Die, die da heute nach der Feuerwehr rufen, das sind die größten Brandstifter gewesen. Es sind nämlich insbesondere Politiker gewesen, die unter dem neoliberalen Wahn öffentliches Eigentum, Wohnungen verscherbelt haben, die mit öffentlichem Eigentum verwerflich umgegangen sind.“
Und leider machen da alle Parteien des politischen Spektrums keine gute Figur. Die gleichen Politiker und Unternehmer, die Verantwortung dafür tragen, dass das menschliche Grundbedürfnis nach angemessenem Wohnraum zu einem Spekulationsobjekt wie Aktien geworden ist, spielen jetzt die Erstaunten, ist Prof. Bontrup angewidert.
Verlogenes Erstaunen der Eliten, dass Kapitalisten sich wie Kapitalisten verhalten
Politiker und Unternehmer spielen in der Tat die Erstaunten und Empörten, dass Kapitalisten wie Kapitalisten agieren. Erstaunt darüber, dass gewissenlose Zocker Eigentum nach allen Regeln der Kunst und allen rechtlichen Möglichkeiten verwerten, das und die sie ihnen zuvor verkauft bzw. gewährt haben. Sie sind erstaunt, dass Spekulanten an menschlichen Schicksalen nicht das geringste Interesse zeigen, sondern einzig und allein daran, mit immer neuen Mietsteigerungen, bei Reduzierung von Bestandsinvestitionen auf ein Minimum oder durch Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen so viel Profit wie möglich und so schnell wie möglich zu erzielen.
Wohnungsnot in Ballungsgebieten nachvollziehbar und mit nachvollziehbaren Konsequenzen
Die Wohnungsnot vor allem in Ballungsgebieten hat nach Ansicht von Heinz Bontrup aber auch den Grund in der simplen Tatsache, dass Menschen auf der Suche nach Arbeit und angemessenen Lebensbedingungen wie funktionierendem öffentlichen Personennahverkehr, ärztlicher Versorgung oder Einkaufsmöglichkeiten in die Städte drängen. Dort treffen sie auf eine Bevölkerungsstruktur, die von einer überproportional hohen Zahl von Singlehaushalten und vielen Geflüchteten geprägt ist. Denn Letztgenannte lassen sich aus verständlichen Gründen ungern auf das flache Land abdrängen, von wo ja, wie erwähnt, die ansässige Bevölkerung ebenfalls wegzieht.
Dieser Nachfragedruck auf den Wohnungsmarkt führt natürlich ganz streng kapitalistisch zu hohen Preisen. Vor allem, weil der Staat durch das neoliberale Dogma vom Staat als schlechterem Unternehmer preiswerten Wohnraum in Größenordnung verkauft hat und nun keine Steuerungsmöglichkeiten mehr besitzt. Das betrifft beispielsweise auch ehemalige Vorzeigekommunen wie Dresden. Die sächsische Landeshaupt hat sich zwar durch den Verkauf ihres kommunalen Wohnungsbesitzes schuldenfrei gemacht, muss aber nun ohnmächtig mitansehen, wie Wohnimmobilienkonzerne Mieter auspressen und nur investieren, wenn sie dazu gerichtlich gezwungen werden.
Schwache Argumente gegen Berliner Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen!“
Das gleiche Szenario erlebt Berlin, wo eine Koalition aus SPD und Linkspartei kommunalen Wohnungsbesitz verkaufte. Der Konzern Deutsche Wohnen besitzt mehr als 100.000 Wohnungen in Berlin. Alle gekauft und nicht gebaut, womit auch das derzeit immer wiederkehrende Lieblingsargument der Gegner des Enteignungsreferendums als vorgeschobene Verteidigung der Deutsche Wohnen AG enttarnt ist. Denn die Volksinitiative zur Enteignung des Konzerns schafft in der Tat keinen neuen Wohnraum, soll aber die Nutzungsgewalt der öffentlichen Hand über Wohnraum wieder zurückgewinnen und damit dem Diktat der Profitgier des Deutsche Wohnen Konzerns endlich Einhalt gebieten.
Wobei das Herz von Heinz Bontrup nicht an einer Enteignung der Deutsche Wohnen AG hängt, da fielen ihm sofort ganz andere Enteignungskandidaten in der deutschen Unternehmenslandschaft ein. Für Prof. Bontrup gibt es nur einen seriösen Ausweg aus der Krise:
„Der Staat muss selbst wieder als Player, als Spieler, als Bauherr auf das Spielfeld zurückkommen. Er muss selbst Wohnungen bauen und diese in einem öffentlichen Eigentum auch entsprechend verwalten, dann kann er auch ganz dezidiert in die einzelnen Teilmärkte, da, wo wirklich hohe Verknappungen vorliegen, kann er ein Angebot bereitstellen und kann dann auch eine entsprechende Preispolitik, eine Preispolitik für Menschen betreiben, die leider vom Einkommen her nicht so gut gestellt sind.“
Denn die Krise auf dem deutschen Wohnungsmarkt ist untrennbar mit der fortschreitenden so genannten Prekarisierung der deutschen Gesellschaft verbunden. Wer in Niedriglohnverhältnissen ausgebeutet wird, der ist auf billigen Wohnraum angewiesen oder aber er ist gezwungen, einen in Relation zu Besserverdienenden überproportional hohen Anteil seines Nettoeinkommens für die Kosten der Wohnung aufzuwenden.
Das Mantra der „schwarzen Null“ bezahlen alle, die kein Geld haben, sich Leistungen zu kaufen
Überhaupt wird gerne vergessen, dass es die Niedriglohneinkommen sind, die am gravierendsten von einem anderen, bis zum Erbrechen wiedergekauten neoliberalen Dogma betroffen sind, der so genannten schwarzen Null. Prof. Mechthild Schrooten erklärt das sehr einfach:
„Die schwarze Null wird von allen bezahlt, die darauf angewiesen sind, dass der Staat vernünftige Dienstleistungen bereitstellt. Alle, die zum Beispiel auf eine funktionierende staatliche Schule angewiesen sind, die nicht ausweichen können auf eine Privatschule.“
Die Zahl der Privatschulzulassungen in Deutschland steigt seit Jahren. Die Besserverdienenden versuchen, ihre Kinder aus den staatlichen Schulen zu holen, in denen die zurückbleiben, die schon von den anderen bereits erwähnten Problemen der immer deutlicheren Spaltung der deutschen Gesellschaft in Arm und Reich betroffen sind.
Öffentlich-Private-Partnerschaften sind nichts weiter als Schattenhaushalte
Weil der Staat etwas tun muss, aber gleichzeitig ja seine Ausgaben reduzieren soll (der schlanke Staat lässt grüßen!), er aber andererseits durch die Schuldenbremse auch keine Kredite mehr aufnehmen darf, wurde das Konstrukt der so genannten Öffentlich-Privaten-Partnerschaft (ÖPP) entwickelt, bei der sich private Unternehmen an der Not der öffentlichen Hand eine goldene Nase verdienen.
De facto handelt es sich bei den ÖPP um einen Schattenhaushalt. Der hat den Vorteil, dass er nicht sofort zu sehen ist, aber den Nachteil, dass er genauso wie ein sichtbarer, ordentlicher Haushalt funktioniert, also über kurz oder lang auch bankrottgehen kann. Wie unter diesen Umständen verantwortungsvolle Politiker, wie aktuell wieder aus der Union und der FDP, Steuersenkungen fordern können, bleibt den Professoren Schrooten und Bontrup und ihren Kolleginnen und Kollegen ein Rätsel.
Wer Wähler mit Füßen tritt, muss sich nicht wundern, wenn sie an den Wahlurnen zurücktreten
Kein Wunder ist für die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik allerdings das Erstarken der politischen Ränder im Parteienspektrum in Deutschland wie in der EU. Wer Menschen zurücklässt bzw. ihnen zu verstehen gibt, dass sie nutzlos sind und nicht verwertbar, der sollte sich nicht wundern, dass frustrierte, enttäuschte, desillusionierte Menschen ab einem bestimmten Punkt auch nicht mehr das scheinbar so einfache und schöne Spiel der demokratischen Wahlen mitspielen, sondern in den Augen der etablierten Politik und Eliten „falsch“ wählen.
sputniknews
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