Unfassbar giftig

  28 Januar 2016    Gelesen: 1127
Unfassbar giftig
Eine Studie zeigt: Kohlekraftwerke schleudern riesige Mengen Quecksilber in die Luft. Das Metall ist überall – im Essen, in Zähnen, in Lampen. Wie gefährlich ist es?
Der Hutmacher in Alice im Wunderland sitzt am Tisch mit Märzhase, Haselmaus und Alice und spricht in wirren Sätzen. Der Hutmacher ist unfreundlich, pampig und hibbelig.

Was weder er selbst noch Alice und vielleicht nicht mal Lewis Carroll wissen: Er leidet am Hutmachersyndrom. Symptome: Entzündungen, angegriffene Organe, Nervenschäden, Unruhe, nachlassende Intelligenz. Ursache: regelmäßiger Umgang mit einer Chemikalie zum Aushärten von Biberfilz. Für extrasteife Hüte. In England ist der Zusammenhang schon lange bekannt, man sagt, jemand sei mad as a hatter, verrückt wie ein Hutmacher. Der bekannteste Hutmacher der Welt leidet an Vergiftung mit Quecksilber.

Das silbrig schwappende Metall ist nicht nur Stoff für große, steife Hüte und andere Verrücktheiten. In den meisten Mündern ist das giftigste nicht radioaktive Element als Amalgam heimisch. Es ist in beinahe jedem Haar weltweit nachweisbar. Im antarktischen Pinguin steckt’s und im arktischen Inuit, auch aus aktiven Vulkanen und den Schloten der Kohlekraftwerke dampft Quecksilber. Doch wenn man glaubt, das ubiquitäre Gift verstanden oder verortet zu haben, ist es plötzlich verschwunden.

Es versteht sich von selbst, dass dieses Teufelszeug ein Alarmstoff erster Güte ist. Energiesparlampe zerbrochen: Himmel hilf! Amalgam im Mund: Wir werden vergiftet! Auch das neue Jahr begann mit Quecksilberwarnungen. Kurz nach Silvester meldete sich das Hamburger Institut für Ökologie und Politik (Ökopol), das im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion den Zusammenhang zwischen Kohlekraft und der Chemikalie untersucht hat. Resultat: Fische sind zunehmend stärker belastet, als das Lebensmittelrecht erlaubt. Manche Quecksilberverbindungen schädigen das Erbgut und können Krebs erzeugen. Und Deutschland ist gemeinsam mit Polen und Portugal "Spitzenreiter der Quecksilberfreisetzung in Europa". Gegen uns sind die USA mit extrem niedrigen Grenzwerten bei der Quecksilberemission ein Öko-Musterknabe.

Wir wollen in mehreren Anläufen versuchen, den verrufenen Stoff in den Griff zu bekommen. Das "quicke Silber", chemisches Symbol Hg, Hydrargyrum, von griechisch hydrárgyros, "Wassersilber", englisch mercury, nach dem fixen Götterboten Mercurius, ist allerdings kaum zu fassen. Weder im physisch-materiellen Sinn, wie jeder weiß, dem schon mal ein altes Fieberthermometer zerbrochen ist. Noch im übertragenen Sinn.

Es muss eine Landschaft von gewaltigen Dimensionen und märchenhafter Pracht gewesen sein – das Grab des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi. 210 vor Christus war der grausame Herrscher gestorben. Beinahe jedem ist seine aus mehr als 7.000 Soldaten bestehende "Terrakotta-Armee" ein Begriff. 100 Jahre später berichtete der Historiker Sima Qian über die innere Grabkammer der 56 Quadratkilometer großen Mausoleumsanlage, an deren Bau Hunderttausende von Arbeitern mitgewirkt haben müssen. Auf dem Boden erstrecke sich ein Modell des vom Kaiser geeinten China, mitsamt seiner hundert wichtigsten Seen und Flüsse. In den Flüssen soll, ununterbrochen und von einer geheimnisvollen Mechanik gefördert, eine magische Flüssigkeit geströmt sein: Quecksilber.

Ähnliche Berichte hört man von anderen Grabstätten. Auch auf der anderen Seite der Erde, unterhalb der mexikanischen Ruinenstadt Teotihuacán, haben Forscher soeben große Mengen Quecksilber entdeckt. Sie glauben, es handele sich um ein präkolumbisches Herrschergrab; das Quecksilber könnte – analog zum altgriechischen Styx – den Fluss zur Unterwelt dargestellt haben.

Unser Verhältnis zum Quecksilber war lange Zeit bestimmt von Enthusiasmus. Seine faszinierenden physikalischen Eigenschaften als einziges bei Normaltemperatur flüssiges Metall und seine magische optische Wirkung haben den Stoff seit der Antike wertvoll erscheinen lassen. König- und Kaisertum umgaben sich seit je mit dem geheimnisvollen Metall. Bis ins 20. Jahrhundert liebten die Maler das Mineral, aus dem das Quecksilber gewonnen wurde: Cinnabarit oder Zinnoberrot. Ein Quecksilbersulfid (HgS), das man auch rösten konnte. Bei der Oxidation entstanden dann Schwefeloxid und eben das begehrte elementare Quecksilber.


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