Als die Fluchtwelle aus der DDR anschwillt

  19 Auqust 2019    Gelesen: 728
Als die Fluchtwelle aus der DDR anschwillt

August 1989: Die Krise in der DDR verschärft sich. Immer mehr Menschen kehren ihrer Heimat über die durchlässiger werdende ungarisch-österreichische Grenze den Rücken. Ein unsäglicher Spruch von SED-Chef Erich Honecker findet Eingang in die Geschichtsbücher.

Schenkt man den DDR-Medien im August des Jahres 1989 Glauben, dann ist im zweiten deutschen Staat alles in bester Ordnung. Die "Aktuelle Kamera" berichtet von glücklichen Menschen, die an der Ostsee oder im Thüringer Wald Urlaub machen. Die DDR-Wirtschaft wächst, die Pläne werden übererfüllt. Hochmotivierte Werktätige gehen in den Betrieben ihrer Arbeit nach - alles für die weitere Stärkung des Sozialismus. Natürlich ist auch an der Erntefront alles in Ordnung, die Getreideproduktion wird im Vergleich zum Vorjahr natürlich gesteigert.

Doch die von den DDR-Medien gezeigten Potemkinschen Dörfer verfangen in der Bevölkerung nicht mehr. Es herrscht riesige Unzufriedenheit, weil die Realität anders aussieht. So ist der Ärger über die immer größer werdenden Versorgungsmängel groß. Ökonomisch steht die DDR kurz vor dem Abgrund. Die Betriebe werden auf Verschleiß gefahren, seit Jahren wird kaum mehr in ihre Modernisierung investiert. Die Umweltprobleme werden immer größer. Die Flüsse sind vergiftet, die Luftverschmutzung nimmt zu. Der exzessive Braunkohleabbau hinterlässt im mitteldeutschen und Lausitzer Raum regelrechte Kraterlandschaften.

Immer mehr DDR-Bürger suchen die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin auf, um ihrem Staat den Rücken zu kehren. Vor allem gibt es eine rege Reisetätigkeit nach Ungarn. Ein immer größer werdender Menschenstrom sickert durch die durchlässig gewordene Grenze nach Österreich. Knapp zwei Monate zuvor, am 27. Juni 1989, hatten die Außenminister Ungarns und Österreichs, Alois Mock und Gyula Horn, in einem symbolischen Akt den Stacheldraht durchschnitten.

Honeckers "Ochs und Esel"-Spruch

Und was tut die SED-Spitze um Erich Honecker? Von der greisen Politbüroriege ist keine Aufbruchstimmung mehr zu erwarten. Auf die immer stärker anschwellende Flüchtlingsbewegung findet sie keine Antworten, dringend notwendige Reformen verweigert sie. Fernab jeglicher Realität und die Stimmung im Land ignorierend spricht Honecker von den Erfolgen des Sozialismus "in den Farben der DDR", ein Zeichen der Abgrenzung vom sowjetischen Reformer Michail Gorbatschow.

Der ganze Starrsinn zeigt sich im Auftritt des schwerkranken SED-Chefs am 14. August in Erfurt, bei dem er einen 32-Bit-Mikroprozessor in Empfang nimmt. Honecker war seit seinem Zusammenbruch beim Warschauer-Pakt-Gipfel in Bukarest seit Wochen nicht mehr öffentlich aufgetreten. Mit seinem Spruch "Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf" macht er unmissverständlich klar, dass er die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Die Veranstaltung in der größten thüringischen Stadt, auf der die ökonomische Stärke der DDR gepriesen werden sollte, wird damit zu einem Rohrkrepierer. Noch mehr DDR-Bürger, die natürlich ungern als Ochs und Esel bezeichnet werden wollen, kehren ihrer Heimat den Rücken, packen ihre Sachen und machen sich auf den Weg nach Ungarn.

Nach dem Paneuropa-Picknick brechen alle Dämme

Dort findet am 19. August 1989 an der Grenze zu Österreich eine Friedensdemonstration der von Otto von Habsburg geführten Paneuropa-Union statt, die als Paneuropäisches Picknick von Sopron in die Geschichte eingehen wird. Ungarns und Österreichs Behörden gaben ihre Zustimmung zur symbolischen Öffnung eines Grenztors für drei Stunden. Hunderte DDR-Bürger nutzen diesen Umstand zur Flucht in den Westen. Sie lassen Fahrzeuge und Halbseligkeiten in Ungarn zurück. Es ist die bis dahin größte Fluchtbewegung aus dem zweiten deutschen Staat seit der Errichtung der Berliner Mauer 28 Jahre zuvor. Die Rückführung der Autos in die DDR organisierte dann die Stasi.

Die Führung in Budapest war bereits seit 1989 auf dieses Picknick vorbereitet. Entsprechend besonnen reagierten Ungarns Inlandsgeheimdienst und Grenztruppen auf das Ereignis. Sie ließen die Flüchtenden gewähren und verhinderten damit eine Eskalation der Lage an der Grenze.

Nach dem Ereignis von Sopron brechen alle Dämme. Ungarn ist nun endgültig nicht mehr bereit, seine Grenze dichtzuhalten. Die Sowjetunion schreitet nicht ein. Die Führung in Ost-Berlin ist machtlos. Maschinen der DDR-Airline Interflugfliegen bis auf den letzten Platz gefüllt nach Budapest und kommen halbleer nach Schönefeld zurück.

Am 11. September 1989 macht Ungarn seine Grenze zu Österreich endgültig auf. Zehntausende DDR-Bürger reisen in Österreich ein, um dann weiter in die Bundesrepublik zu fahren. Sie sehen in ihrem Land keine Zukunft mehr. Nur wenig später ist klar, dass die DDR dem Tode geweiht ist.

Quelle: n-tv.de


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