Es kann keiner behaupten, er wäre nicht gewarnt gewesen. "Google ist kein konventionelles Unternehmen. Wir haben nicht vor, eines zu werden", schrieben die Gründer Larry Page und Sergey Brin vor dem Börsengang 2004 in einer "Betriebsanleitung" für die Aktionäre. Nicht nur die Investoren verstanden das eher als Verheißung.
In den 15 Jahren danach avancierte das Start-up für viele zu einem attraktiven Konzern. Die Aktie schoss vom Ausgabepreis von 85 Dollar auf aktuell 1165 Dollar hoch. Weltweit träumen Techies heute von einer Karriere auf dem Campus im kalifornischen Mountain View. Und die Amerikaner vertrauen Google nach einer Umfrage des Baker Center for Leadership & Governance von 2018 sogar mehr als der eigenen Polizei und Justiz. Dem Internetdienstleister, so schien es lange, ist die Versöhnung von Kapitalismus und Gesellschaft gelungen. Vergangenes Jahr machte die Mutter Alphabet einen Nettogewinn von satten 30 Milliarden Dollar.
Doch nun ist der Teenager unter den Börsenkonzernen in eine Identitätskrise geraten. Denn seit dem Amtsantritt von Donald Trump kämpft Google plötzlich an mehreren Fronten. Ganz anders als die Administration von Barack Obama, die mit dem Digitalkonzern so etwas wie Jobrotation betrieb, betrachtet der neue Präsident Google nicht als natürlichen Verbündeten, sondern als erklärten Gegner. Die Suchmaschine, behauptete er zuletzt, habe die Präsidentschaftswahl 2016 zugunsten seiner Gegnerin Hillary Clinton manipuliert. "Wir beobachten Google sehr genau!", droht er.
Trump, Kartellwächter, Analysten - der Druck nimmt zu
US-Medien zufolge arbeitet das Weiße Haus an einem Dekret, damit der Staat gegen die angebliche politische Einseitigkeit der sozialen Medien vorgehen kann. Gleichzeitig ist die Tech-Branche nach langer Schonfrist mittlerweile in das Visier der Kartellwächter geraten. Und schließlich sorgt manche Analysten, dass Googles Geschäftsmodell zu stark vom Anzeigengeschäft abhängt. Allerdings hat Alphabet auch im vergangenen Geschäftsquartal wieder prächtig verdient.
Ganz auf der Sorgenliste des Managements dürfte derzeit sowieso etwas anders stehen: die eigenen Mitarbeiter, die nach Larry Pages Worten "alles sind". Weil das so ist, waren in der Googleplex-Zentrale bisher nicht nur das Essen und die Gedanken frei, sondern auch die Rede. Ein "Googler" darf sagen, was er will, wann er will, wem er will. Anders als in anderen Unternehmen sollen die Beschäftigten ihre politischen Einstellungen und persönliche Überzeugungen nicht beim Portier abgeben, sondern ihr "ganzes Selbst" mit zur Arbeit bringen. Der Widerspruch gegen die Oberen gehört zur Jobbeschreibung.
Riskanter Bruch mit der Unternehmenskultur
Die einstigen Montessori-Schüler Page und Brin haben auf diese Weise eine einzigartige Unternehmenskultur geschaffen, die qualifizierte, individualistische und kreative Talente magisch anzieht. Viele der weltweit mehr als 100.000 Beschäftigten haben bei Google auch deshalb angeheuert, weil dieser Arbeitgeber verspricht, "nicht böse" zu sein und die "Welt zu einem besseren Ort" zu machen. Im besten Fall zahlt sich der Deal für beide Seiten aus: Freigeister schaffen bahnbrechende Innovationen.
Doch zunehmend erweist sich, dass die Erfolgsphilosophie eine Kehrseite hat. Google ist kein Start-up mehr, dem man vieles durchgehen lässt. Sondern ein mächtiger Konzern, den Fans wie Kritiker am eigenen Anspruch messen. Und längst nicht immer erfüllt es den.
Das Technik-Magazin "Wired" hat gerade in einer groß angelegten Recherche enthüllt, dass auch Google-Manager Geschäftsinteressen wichtiger nehmen, als auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Nur zögernd habe sich das Unternehmen öffentlich gegen das von Trump nach dem Wahlsieg verhängte Einreiseverbot für Moslems gestellt. Man wollte die neue Regierung nicht provozieren. Aber die Belegschaft machte Druck.
Ende 2018 gingen rund 20.000 Googler in vielen Städten auf die Straße, um gegen sexuelle Übergriffe gegen Frauen, Diskriminierung und schlechtere Bezahlung zu protestieren. Zuvor war bekannt geworden, dass der Android-Entwickler Andy Rubin nach Vorwürfen, er habe eine Beschäftigte zum Oralsex genötigt, in aller Stille mit einem goldenen Handschlag von 90 Millionen Dollar hinauskomplementiert worden war.
Als Google sich darum bemühte, mit dem US-Militär ins Geschäft zu kommen, um sein schwaches Cloud-Geschäft anzukurbeln, brach intern eine Revolte los. "Google sollte nicht beim Geschäft mit dem Krieg mitmachen", hieß es in einer Petition, die mehr als 3000 Unterschriften bekam. Am Ende zog man sich aus dem "Projekt Maven" zurück.
- Auch ein zweiter Anlauf, auf dem wichtigen chinesischen Zukunftsmarkt Fuß zu fassen, ging schief. Das "Projekt Dragonfly" einer zensierten Suchmaschine scheiterte nach einem Bericht der Website Intercept an internem Widerstand. Es gebe "derzeit" keine entsprechenden Pläne, erklärte CEO Sundar Pichai schließlich Ende vergangenen Jahres im US-Kongress.
- Die zunehmende Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft verschärft die inneren Kämpfe in der Belegschaft. Und in der Familie bleibt schon lange nichts mehr. Der frühere Ingenieur Kevin Cernekee tingelte durch die Medien mit der Behauptung, Google habe ihn gefeuert, weil er offen konservative Positionen vertreten habe. Andere sagen, Cernekee vertrete nationalistische Positionen. Aber auch eine der Mitorganisatorinnen des Frauenprotests hat aufgegeben. Sie wirft ihren Chefs vor, sie nach der öffentlichen Kundgebung ruhiggestellt zu haben.
Die Stimmung scheint so aufgeheizt, dass Alphabet Handlungsbedarf sah. Der Konzern hat neue Richtlinien für den Arbeitsplatz vorgelegt, die unter anderem verlangt, auf "Beschimpfungen" zu verzichten. Auf den internen Kommunikations-Plattformen habe sich "wachsende Unhöflichkeit" ausgebreitet, begründete ein Sprecher den Schritt.
Dabei dürfte es nicht nur um den inneren Frieden, sondern auch das Geschäft gehen. Dem "Wall Street Journal" zufolge hat Chefjustiziar Kent Walker gedroht, Mitarbeiter rauszuwerfen, die nach Informationen über sensible Projekte wie Maven stocherten. "Unsere primäre Verantwortung ist, die Arbeit zu tun, für die wir eingestellt wurden, und nicht die Arbeitszeit auf nicht-arbeitsbezogene Themen zu verwenden", so das Memo an die Google-Gemeinde.
Der Bruch mit der Unternehmenskultur ist riskant. Googles Weltverbesserungsattitüde sei für viele Beschäftigte der "Eintrittspreis" gewesen, sagte ein Ex-Mitarbeiter der Zeitung. "Sie verändern den Deal. Das ist ein radikaler kultureller Abschied über Nacht."
spiegel
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