Bei Volkswagen heißt die Zukunft Norbert

  08 September 2019    Gelesen: 534
Bei Volkswagen heißt die Zukunft Norbert

Zwei Wochen lang testen und tüfteln Ingenieure der Volkswagen Konzernforschung auf der Rennstrecke in Portimao an Zukunftsprojekten zum autonomen Fahren. Mit dabei: Norbert - ein automobiler Prototyp.

"Norbert würde gerne auf die Strecke", krächzt es aus dem Funkgerät, und die Antwort folgt auf dem Fuße: "Alles klar, Walter fährt raus." Kurz darauf kommt ein schwarz-weiß beklebter Audi RS7 in die Boxengasse, und der rote VW Golf GTI gibt Gas und biegt auf den Rundkurs von Portimao ein. Norbert heißt aber gar nicht wirklich Norbert, sondern Jonas Kaste.

Genauer gesagt: Jonas sitzt hinterm Steuer von Norbert. Der nämlich ist, wie seine Kollegen Susi, Walter und Dieter, ein mit zahlreichen Computern im Kofferraum bestückter automobiler Prototyp. Ihre Spitznamen haben die zwei VW Golf GTI, der Passat Variant und der Audi RS/ von der Entwicklertruppe aus der Volkswagen Konzernforschung bekommen, zu der auch Jonas Kaste gehört.

Die rund 25 Ingenieure treffen sich unter der heißen portugiesischen Sonne zum Tüfteln und Testen, bereits zum fünften Mal findet in der Nähe von Faro die sogenannte Vehicle Dynamics Convention statt. Die Grundlagenforscher optimieren während dieser zweiwöchigen Testphase, fernab ihrer Büros in Braunschweig oder Wolfsburg, ihre Projekte und stellen sie zum Teil schon Vertretern der einzelnen Konzern-Marke vor. Die nämlich dürfen in den kommenden Jahren mit genau diesen Entwicklungen arbeiten. Was hier erprobt wird, kommt in der Regel erst in zehn, fünfzehn Jahren in die Serienautos.

Der Computer als Experte

Wer beim Namen Vehicle Dynamics allerdings an klassische Fahrwerksingenieure denkt, die an Federbeinen, Dämpfern und Mehrlenkerachsen schrauben, der täuscht sich. Ölverschmierte Hände hat hier niemand, ja nicht mal ein Schraubenschlüssel liegt irgendwo herum. Stattdessen: Viele Kabel und gutes WLAN. In der Werkstatt-Box haben die Techniker ein paar Tische zusammengeschoben, ihr Handwerkszeug sind Bits und Bytes. Jonas Kaste und seine Kollegen sind vor allem eins: IT-Spezialisten, die mit hochkomplizierten Algorithmen und neuronalen Netzen Versuchen, den Autos der Zukunft immer mehr Intelligenz einzutrichtern. Was das mit Vehicle Dynamics zu tun hat? Jede Menge. Denn spätestens wenn das Auto einmal ganz ohne Fahrer unterwegs sein soll, muss der Computer Experte auf dem Gebiet der Fahrdynamik sein.

Dieter, Walter oder Norbert können den Rundkurs von Portimao ohne zutun des Sicherheitsfahrers hinterm Lenkrad umrunden. Anders als bei den ersten Demonstrationen vor ein paar Jahren, wo der Audi RS7 wie von Geisterhand in Niki-Lauda-Manier die Grandprix-Strecke von Hockenheim abgefahren ist, ist hier allerdings keine feste Route eingespeichert. Die Autos kennen nur den Streckenverlauf und suchen sich ihre Ideallinie selbst. Die nennt sich im Fachjargon Trajektorie, und hängt freilich von vielen Parametern ab.

Nerd-Käppi statt Blaumann

Genau daran forscht Jonas Kaste in diesen Tagen. Der 32jährige Maschinenbauingenieure mit dem abgewetzten Nerd-Käppi will dem Auto beibringen, selbst zu merken, wann die Reifen abgefahren sind. Das Prinzip dahinter ist einfach: Der Computer berechnet eine Fahrstrecke, der Golf fährt diese Linie mit High-Speed ab. Haben die Pneus genug Profil und Grip, weicht er kaum von der vorgegebenen Strecke ab. Je schlechter die Reifen werden, desto eher beginnt er aber zu rutschen und desto mehr Versatz gibt es in den Kurven. Was diese Information bringt? Wenn das Auto weiß, dass es nicht mehr auf der letzten Rille fahren kann, passt es seine Strategie an, plant größere Kurvenradien und reduziert die Geschwindigkeit, erklärt Jonas, der noch im Fahrzeug die wichtigsten Daten auf einem Laptop auswertet und kleine Anpassungen am Quellcode vornimmt.

"Das macht die Arbeit hier so besonders, du drehst ein, zwei Runden und kannst nur wenige Meter neben der Strecke sofort Fehler korrigieren oder neue Parameter ausprobieren", schwärmt der Entwickler, der nach ein paar schnellen Fahrten genau so viel Adrenalin im Blut hat wie ein Rennfahrer. Dabei musste Jonas, der von sich selbst scherzhaft behauptet, ein mieser Autofahrer zu sein, vor der Testfahrt nur ein paar Tasten drücken und während der schnellen Runde einen Totmannschalter festhalten, damit der Prototyp nicht aus versehen ganz ohne Aufpasser auf die Strecke geht.

Austausch mit Kollegen und Wissenschaftlern

Neben der unmittelbaren Nähe von Theorie und Praxis ist für Jonas hier in Portimao auch der Austausch mit den Kollegen wichtig, die an anderen Projekten arbeiten. Zusätzlich haben sich die Volkswagen-Ingenieure wissenschaftliche Unterstützung von der Uni Stanford und der TU Darmstadt nach Portugal geholt. "Wer bei einem Problem nicht weiter kommt, kann sich hier ganz unkompliziert Input von den Kollegen holen", erzählt Jonas begeistert. Der Austausch bei einer Bratwurst, die der Werkstattmeister mittags auf den Grill wirft, ist oft deutlich hilfreicher als ein langatmiges Meeting im Büro.

Zwar schwebt über der ganzen Convention die Vision des autonom fahrenden Autos, doch vieles, was die Ingenieure hier an ihren selbstfahrenden Prototypen erforschen, kann auch Fahrern in konventionellen Autos zu Gute kommen. Einer der Ingenieure bemüht den Vergleich mit der Mondlandung: Nur weil es vor 50 Jahren möglich wurde, zum Erdtrabanten zu reisen, fahren wir nicht jede Woche dort hin. Allerdings profitieren wir noch heute von der Mondfahrt, nicht zuletzt bescherte uns die Nasa-Technologie zum Beispiel die Teflon-Pfanne. Die Antihaft-Beschichtung der Autoindustrie ist dagegen die Sicherheit. Viele Entwicklungen auf dem Weg zum selbstfahrenden Auto können auch in konventionellen Fahrzeugen die Sicherheit erhöhen und helfen, der Vision von null Verkehrstoten näher zu kommen. Wenn das Auto zum Beispiel merkt, dass der Reifen runter gefahren ist, kann es nicht nur seine autonome Fahrstrategie anpassen, sondern den Fahrer auch warnen und ihn in die Werkstatt bitten.

Lenken mit dem Playstation-Controler

Auch für die Entwicklungen im Bereich Steer-by-Wire sind nicht allein auf das selbstfahrende Auto gemünzt. In einem erstaunlicherweise namenslosen VW Tiguan haben Christopher Kreis und sein Kollege die mechanische Verbindung vom Lenkrad zu den Rädern gekappt, stattdessen wird der Lenkbefehl digital an Stellmotoren übertragen, die die Vorderräder in Position bringen. Im Flugzeug ist diese Technik bereits Gang und Gäbe, im Auto allerdings gab es bislang schlichtweg keinen triftigen Grund für den Entwicklungsaufwand.

Im autonom fahrenden Auto, das vielleicht gar kein Lenkrad mehr hat oder bei dem sich das Volant ein- und ausklappen lässt, wir die Technik plötzlich interessant. Aber auch hier gibt es durchaus Einsatzzwecke für Fahrer-Autos: Der Tiguan beispielsweise lässt sich nicht nur per Lenkrad steuern, sondern auch per Smartphone und sogar über einen Playstation-Controller. Zu Nutze machen könnte man sich die Technik unter anderem in behindertengerechten Fahrzeuge mit noch individueller angepassten und damit sichereren Steuermöglichkeiten. Aber auch der Fahrerwechsel während der Fahrt könnte zukünftig problemlos möglich sein, in dem man einfach den Joystick weiterreicht, wenn man müde ist oder telefonieren will.

Bitte übernehmen Sie!

Auf dem Gebiet Lenkung forscht auch eine der wenigen Frauen im hier anwesenden Entwicklerteam. Gamze Kabil optimiert Übernahme-Strategien, sprich den Wechsel vom autonomen zum fahrergebundenen Fahren. Die Krux dabei: Ein Steer-by-Wire-Lenkrad dreht sich nicht zwingend mit, wenn der Wagen von alleine fährt. Wenn nun aber der Fahrer ausgerechnet in einer Kurve wieder selbst eingreifen will oder muss, stimmen der Lenkwinkel der Räder und der Einschlag des Volants nicht überein. Wie sich das am besten synchronisieren lässt, erprobt Gamze in zahlreichen Testrunden und holt sich dafür auch eifrig Feedback von ihren Kollegen ein.

Das Lenkgefühl ohne mechanische Verbindung ist dagegen Maximilan Templers Baustelle: Der Doktorrand arbeitet mit neuronalen Netzwerken, hochkomplexen Berechnungen, die versuchen anhand eines erlernten Verhaltens aus verschiedenen Parametern wie Lenkwinkel, Geschwindigkeit und vielen weiteren, die optimale Kraft zu errechnen, mit der der Force-Feedback-Aktuator den Lenkwiderstand simuliert. Schließlich soll sich auch ein Steer-by-Wire-Tiguan anfühlen, wie ein Volkswagen.

Wie fühlt sich das Auto von morgen an?

Apropos Anfühlen: Heutzutage unterscheiden sich Autos stark durch ihre fahrdynamische Ausprägung. Ein Porsche fährt sich anders als ein Skoda, ein Bentley anders als ein Seat. Was aber, wenn das Auto von alleine unterwegs ist? Wenn am Ende alle die gleiche, optimale Linie errechnen, dürften die Unterschiede gering werden. Genau das will das Brand-DNA-Team verhindern. Sie suchen nach Stellschrauben, um auch den autonome fahrenden Fahrzeugen unterschiedliche Charakteristiken beizubringen. Wie sich der Porsche der Zukunft anfühlt? Das spielt hier in Portimao noch keine Rolle. "Wir schaffen hier nur die Möglichkeit, verschiedene Fahrprofile einzuprogrammieren. Die Abstimmung müssen dann die einzelnen Marken-Ingenieure in der Serien-Entwicklung vornehmen", erklärt Paul Hochrein. Und wenn die dann irgendwann marktreif ist, tüfteln Jonas und Co. in Portimao schon wieder an ganz neuen Lösungen.


Quelle: n-tv.de


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