Warum meckern Deutsche so viel?

  15 September 2019    Gelesen: 862
Warum meckern Deutsche so viel?

Erst ist es zu kalt, dann zu heiß. Offenbar ist der Deutsche nie zufrieden. Dabei geht es ihm im internationalen Vergleich doch eigentlich ganz gut. Der Hamburger Psychologe Michael Thiel hat dieses Phänomen zusammen mit seiner Kollegin Annika Lohstroh unter die Lupe genommen und die Ergebnisse in dem Buch "Deutschland, einig Jammerland! Warum uns Nörgeln nach vorne bringt" zusammengetragen. Im Interview mit n-tv.de. erklärt er, warum die Deutschen oft und anscheinend gerne meckern - und ob das gut oder schlecht ist.

 

Den Deutschen geht es wirtschaftlich gut und sogar der internationale Glücksatlas beweist: Eigentlich sind die Deutschen ein recht zufriedenes Volk. Warum wird hierzulande dann so viel gejammert?

Die Deutschen sind im Vergleich zu anderen Nationen ein sehr besorgtes Volk. Sie fragen sich immer, ob sie alles hinkriegen. Ob sie den Job langfristig behalten, ob sie es schaffen mit dem Geld. Es herrscht ein eher graues, angstvolles und unzufriedenes Lebensgefühl vor.

Woher kommt diese latente Unzufriedenheit?

Dafür gibt es tiefe historische Wurzeln. Wenn man in der Geschichte zurückblickt, dann ist da das preußische Obrigkeitsdenken, das auch heute noch in uns verankert ist. Die preußischen Tugenden kennen vor allem Unterwerfung und weniger Spontanität und Optimismus. Die Deutschen nehmen die Dinge nicht gerne selbst in die Hand, sondern versuchen jemanden zu finden, dem sie die Verantwortung übergeben können. Deswegen konnte Hitler letztendlich an die Macht kommen: Die Deutschen sahen mit ihrer Sehnsucht nach Sicherheit in ihm den vermeintlichen Retter. Außerdem gibt es den Begriff der "German Angst". Das bedeutet: Die Deutschen stapeln gerne tief. Schon früher haben sie, wenn sie Fußball gespielt haben, gesagt: "Ob wir es schaffen mit der Weltmeisterschaft?" Dahinter steckt eine gewisse Strategie, die auch in der Wirtschaft praktiziert wird: Die anderen erst mal durch Tiefstapeln in Sicherheit wiegen und so tun, als ob man nicht so viel draufhat. Im entscheidenden Moment zeigt man dann, was man wirklich kann, um so den Erfolg zu verbuchen.

Ist Jammern überhaupt etwas Schlechtes oder hilft es auch?

Jammern an sich ist erst mal eine Emotion. Eine Unmutsbezeugung. Wenn uns zu kalt oder zu warm ist, dann fangen wir an zu jammern. Das ist automatisiert. Wir signalisieren damit unserem Gegenüber zum Beispiel: Mach' doch mal das Fenster auf. Jammern ist hier eine Art Kommunikationsmittel mit latenter Aufforderung. Auch wenn jemand Sorgen hat und deswegen jammert, ist dies ein Signal. Dieser Mensch möchte indirekt sagen: "Ich brauch' mal deine Hilfe. Ich schaffe das Leben gerade nicht alleine und brauche deswegen dein Ohr oder deine Unterstützung." Dieses Appellnörgeln ist aber nur eine Form des Jammerns.

Das heißt, es gibt noch andere Formen?

Es gibt dann ja auch noch das Solidaritätsjammern. Wenn Sie im Fahrstuhl zum Beispiel sagen: "Ach Mensch, das Wetter ist heute wieder so schlecht", haben Sie sofort Kontakt. Das solidarische Nörgeln funktioniert auch auf einer Party beim Bekanntschaftenmachen. Wenn Sie zu jemandem sagen, den Sie nicht kennen: "Die Musik ist wirklich laut, oder?", dann haben Sie gleich einen Eisbrecher. Auch das ist aber noch kein Jammern in seiner schlimmsten Form. Richtig gefährlich ist der Taktik-Jammerer.

Wie jammert denn der Taktik-Jammerer?

Der treibt beispielsweise im Job sein Unwesen. Auch hier ein Beispiel: Ihr Kollege jammert schon den ganzen Tag, dass er so viel zu tun hat und abends doch eigentlich zu einem Geburtstag möchte. Er nörgelt so lange, bis Sie sagen: "Komm', gib' mal rüber, ich mach' das." Und dann sitzen Sie da und schieben Überstunden, während der Kollege schon auf dem Geburtstag feiert. Oder Sie gehen zu Ihrem Chef und sagen, Sie wollen mehr Geld. Und der Chef sagt: "Ach, wir haben so viele Einbrüche und es ist alles so unsicher geworden, wir können uns das im Moment leider nicht leisten." Das ist strategisches Jammern, um etwas zu erreichen. Nämlich, Ihnen keine Gehaltserhöhung einzuräumen. Eine Form der Manipulation, die psychologisch und moralisch eher bedenklich ist. Eine direkte Aussprache ist wesentlich besser, als indirekt jemanden zu manipulieren. Dieses unterschwellige Rummeckern, das kann man auch nicht ignorieren. Irgendwann fragt man nach: "Was ist los mit dir?" Und das ist der Türöffner und dann hat der Jammerer Sie am Haken. Und klagt Ihnen ständig sein Leid. Vor strategischen Jammerern muss man sich also in Acht nehmen.

Warum sind sie so gefährlich?

Taktik-Jammerer sind Energieräuber. Die kosten unglaublich viel Kraft. Sie sind außerdem sehr egoistisch. Ihr Gejammer dreht sich ja nur um sie selbst. Stellen Sie sich vor, Sie treffen bei der Arbeit auf einen Dauernörgler. Dem erzählen Sie, dass Sie die Aufgaben in Ihrem Job mögen und gut mit der Geschäftsleitung klarkommen. Und der Dauernörgler sagt dann: "Was? Du kannst mit diesen Leuten? Das ist doch unterirdisch!" Und lässt ab da keine Gelegenheit aus, Sie zu kritisieren, Ihren Job zu bekritteln und die Geschäftsführung schlechtzumachen. Der Taktik-Jammerer arbeitet ausdauernd und mit vielen kleinen scharfen Spitzen. Langfristig werden Sie ganz unterschwellig nicht mehr die Energie und die Freude haben, die Sie heute haben und die Ihnen momentan hilft, Ihre Aufgaben zu lösen.

Was muss ich tun, damit ich nicht zum Dauernörgler werde?

Erstens: Man sollte sich zunächst fragen: Wie sieht mein Leben aus? Beschwere ich mich ständig? Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass man früher oder später beim Psychologen oder Psychiater landet, wenn man ständig nörgelt, weil dies zu einer negativen Gedankenspirale führt. Es gibt hierfür die Diagnose der Jammer-Depression. Natürlich gibt es immer mal Momente im Leben, wo etwas nicht gut läuft. Da muss man dann durch, da darf man auch mal ein bisschen jammern. Zweitens: Man sollte sich von Nörglern fernhalten. Nörgeln ist wie eine ansteckende Krankheit und kann mich mit runterziehen.


Drittens: Damit die Psyche gesund bleibt, sollte man auch seinen Körper gesund halten. Sich also gesund ernähren, einen guten Freundeskreis pflegen, Menschen um sich herum haben, die für einen da sind. Freunde bilden einen sicheren Hafen in Zeiten, wenn es mal nicht so gut läuft. Und viertens: Man kann ein Glückstagebuch führen. Das heißt, man schreibt ausschließlich auf, was am Tag gut läuft, so dass man die Aufmerksamkeit nicht automatisch nur auf die negativen Dinge lenkt, sondern auf die positiven. So kann man auch herausfinden, was man mag und womit es einem gut geht. Hier in Hamburg unterstützen meine Kollegin und ich eine Initiative, die versucht, das Schulfach Glück an einer Schule zu etablieren.

Kinder sollen in Hamburg in der Schule in Glück unterrichtet werden?

Ja, dabei geht es vor allem darum, Kinder zu erreichen, die aus eher sozial schwachen Familien kommen, die also oftmals nicht viel zu lachen haben. Kinder, die um ihre Existenz kämpfen müssen. Bei diesen Kindern ist es wichtig, ihnen so eine Art Widerstandskraft zu geben. Sie sollen montags aufschreiben, was am Wochenende gut war. Wir stellen ihnen Fragen wie: Welche Momente sind wertvoll für dich? Wo kannst du auftanken? Das Prinzip funktioniert bei Erwachsenen gleichermaßen: Machen Sie sich eine Glücksliste, auf der Dinge stehen, die Ihnen Spaß machen. Die kann man auch an den Kühlschrank hängen, damit man sie jeden Tag sieht. Das hört sich ein bisschen Banane an, kann aber wirklich sehr hilfreich sein.

Zurück zum deutschen Gemecker: Hat sich das in der Historie verändert? Meckern wir heutzutage mehr als vor 50 oder vor 20 Jahren?

Die Angst vor dem Existenziellen gibt es eigentlich schon immer in Deutschland. Obwohl die Fakten zum Glück heute anders aussehen, schließlich geht es uns wirtschaftlich gut. Die Angst, dass einem etwas weggenommen wird oder man arbeitslos wird, kommt trotzdem sehr häufig vor. Auch bei jungen Leuten. Natürlich wird manchmal auch zu Recht gejammert, wie zum Beispiel beim Thema Umweltverschmutzung. Das ist eine durchaus realistische Angst. Da sagen mittlerweile viele junge Leute: So kann es nicht weitergehen. In diesem Fall hat Jammern einen Sinn, viele junge Leute werden ja mittlerweile bei "Fridays for future" aktiv.

Sie sprachen nun eher über junge Menschen. Was beschäftigt denn Menschen, die um die 60 sind?

Bei ihnen stehen die Fragen im Mittelpunkt: Wie kriege ich mein Leben im Alter hin? Schaffe ich das mit meiner Rente? Muss ich Abstriche machen? Das sind richtig existenzielle Ängste, die da hochkommen. Die zum Teil auch realistisch sind, Stichwort Altersarmut. Die Menschen haben Angst, ob sie ihre Wohnung halten können. Manche bekommen beim Blick auf ihre Rentenbescheinigung einen Schreck und das zu Recht. Diese Angst macht unzufrieden und nörgelig.

Ist das tatsächlich eine deutsche Eigenschaft oder nörgeln unsere europäischen Nachbarn genauso?

Da muss ich mehr oder weniger auf Klischees zurückgreifen. Wenn sich ein temperamentvoller Spanier beschwert, hört sich das schon anders an als beim wortkargeren Skandinavier. Da ist dann die Frage: Wie geht man in welcher Nation mit welcher Emotion um? In Italien und Spanien ist von der Kultur und von der Erziehung her ein lautstarkes Jammern und Beschweren normal und vollkommen in Ordnung. Wenn ein Schwede oder Norweger sauer ist, dann denkt man als Deutscher, der regt sich ja kaum auf, aber er sendet nur andere Signale. Jammern wird erlernt. Das ist kulturspezifisches Verhalten. Wer als Kind in Spanien aufwächst, ist es eher gewohnt, dass sich auch mal lautstark gefetzt wird und hinterher liegt man sich dann in den Armen und alles ist wieder gut. In Deutschland steht eher Dauerjammern und schlechte Laune verbreiten im Vordergrund, hinterher liegt sich allerdings niemand in den Armen. Und ehe Norweger oder Schweden - egal ob positiv oder negativ - ausflippen, muss schon viel passieren. Im Norden geht es eher ruhiger zu.

Aber andere Nationen meckern doch bestimmt auch. Wie geht denn Meckern auf Schwedisch, Englisch oder Spanisch?

In südlichen Ländern, denen es wirtschaftlich oft nicht so gut geht wie uns Deutschen, haben die Menschen mehr mit Umweltkatastrophen und hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Trotz allem ist eine Leichtigkeit verbreitet. Die Menschen dort scheinen sich zu sagen: Ja, die Krise ist da, aber was soll's, wir kriegen das schon irgendwie hin. Wir versuchen trotzdem, das Beste daraus zu machen. Bei den Deutschen dagegen scheint nur zu Weltmeisterschaften eine weitverbreitete Leichtigkeit zu herrschen. Es scheint, als ob sie offiziell verordnetet werden muss. Dieses Phänomen ist rein kulturspezifisch zu erklären.

Also verordnen Sie uns ein bisschen mehr Leichtigkeit?

Absolut. Das tut der Psyche gut. Und was der Psyche gut tut, bekommt auch dem Körper gut. Und wir Psychologen haben schon genug zu tun. Wir müssen nicht noch mehr mit Jammer-Depressionen zu tun haben. Das Leben macht schlicht und ergreifend viel mehr Spaß, wenn Sie fröhlicher und kontaktfreudiger auf Menschen zugehen. Sie werden so viel jammerfreie Erlebnisse haben. Und dann kommen Sie am Ende des Tages nach Hause und sagen: Ach, das war aber ein schöner Tag. Ich habe interessante Leute kennengelernt, habe ein bisschen geschnackt - wie wir hier im Norden sagen - das war interessant und schön. Ich kann aber auch nach Hause gehen und sagen: Och, das war alles so mies und es waren alle schlecht drauf. Wenn Sie mit einem Lächeln und positiv auf Menschen zugehen, werden Sie merken: Diese Menschen kommen auch positiv auf Sie zurück.

Mit Michael Thiel sprach Kira Pieper


Quelle: n-tv.de


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