„Man zwingt Russland, atomar aufzurüsten“ Willy Brandt-Sohn fordert neue Entspannungspolitik

  19 September 2019    Gelesen: 1021
„Man zwingt Russland, atomar aufzurüsten“ Willy Brandt-Sohn fordert neue Entspannungspolitik

„Vom Wahnsinn des Wettrüstens wegkommen“, forderte einst Friedensnobelpreisträger Willy Brandt. Was nach dem Ende des Warschauer Pakts so selbstverständlich schien, ist heute aktueller denn je. Den Friedensappell des Altkanzlers zitiert heute sein ältester Sohn, Peter Brandt, in einem neuen Buch und exklusiv im Sputnik-Interview.

Der Historiker Peter Brandt ist Mitherausgeber des Buches „Frieden! Jetzt! Überall! - Ein Aufruf“. 50 Autoren aus Politik, Wissenschaft, Journalismus, Umweltverbänden und Gewerkschaften fordern darin eine „neue Entspannungspolitik“ - u.a. mit Texten von Michail Gorbatschow, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Sahra Wagenknecht, Frank Bsirske, Jürgen Trittin, Horst Teltschik. Brandt wurde 1948 in Berlin geboren. Er ist Historiker, SPD-Mitglied und Professor im Ruhestand für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Sputnik sprach mit ihm über Krieg und Frieden, die friedenspolitische Rolle der SPD sowie das aktuelle Buch.

Herr Brandt, sie sind einer der Mitherausgeber des Buches "Frieden! Jetzt! Überall!: Ein Aufruf". Was war ihre Intention, bei dem Projekt mitzumachen und wie dringlich ist ein derartiger Aufruf in der heutigen Zeit?

Ich habe mich in der Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre engagiert. Diese Bewegung hat dazu beigetragen, dass sich das Bewusstsein verändert hat und der Kalte Krieg sein Ende fand – der frühere Kalte Krieg. Inzwischen sind wir ja in einem neuen Kalten Krieg. Die Problematik der zunehmenden Spannung zwischen den USA und der Nato auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite, die sich entwickelnden neuen Supermächte neben den USA, wie China, die Vielzahl von Bürger- und Stellvertreterkriegen in der südlichen Hemisphäre. Das ganze internationale System ist aus dem Fugen geraten. Wir hatten zwar im alten Ost-West-Konflikt eine strukturell gefährliche Situation, die auch mehrfach am Rande des Abgleitens war – der absoluten Katastrophe. Heute haben wir aber nicht mal mehr die gewisse Kontrolle, die durch die Hegemonie der Weltmächte damals existierte. Das Ganze ist in einer gefährlichen Unordnung. Hier gilt es, das Bewusstsein zu schaffen, wie gefährlich eigentlich diese Situation inzwischen ist. Ich würde jetzt nicht so weit gehen, wie es manche machen: Experten, die sagen, es ist gefährlicher als alles, was wir in der alten Ost-West-Konfrontation erlebt haben. Aber es ist verdammt gefährlich und es wird gefährlicher. Wir müssen uns einmischen. Es ist unser Leben, das Leben unserer Kinder und Enkelkinder. Insofern finde ich, es ist genau der richtige Zeitpunkt, jetzt den Versuch zu machen, wieder so etwas wie eine mächtige Friedensbewegungzu initiieren.

mmer wieder hört man heute, dass die Annäherung an den Ostblock damals ein Resultat von Härte auf der einen und Diplomatie auf der anderen Seite war. Was ist da dran? Damit wird heute häufig die unnachgiebige Haltung bei der Krim-Frage und den Russland-Sanktionen erklärt. Lässt sich das mit der Entspannungspolitik von Brandt vereinbaren. Und gibt es hier ihrer Meinung nach wirklich Parallelen zu der heutigen Lage?

Was die Väter der damaligen Entspannungspolitik meinen würden, wissen wir nicht. Wir können nur spekulieren, aber wir können die Frage stellen, ob es eine Methodik gibt, die man eventuell mit Modifikationen übertragen könnte. Der entscheidende Punkt in der damaligen Entspannungspolitik - das gilt nicht nur für die westdeutsche - war, dass man angefangen hat, sich in die Situation des anderen zu versetzen und sich darüber klarzuwerden, wie der Konflikt aus der anderen Perspektive aussieht. Das ist ja nicht, dass man es einfach übernimmt. Aber das heißt, dass man überhaupt versteht, warum die andere Seite so handelt, wie sie handelt. Die Wahrnehmung steuert ja unser Handeln, nicht wie es objektiv ist (lacht) – jedenfalls nicht zwingend. Und wenn man diesen Schritt gemacht hat, hat man einen vollkommen anderen Zugang zu Konflikten. Wir verlangen ja nicht, die vollständige einseitige Abrüstung (lacht) der einen oder anderen Seite. Wir sagen allerdings, um einen Mechanismus in Gang zu setzen, sind auch einseitige, kalkulierte Schritte möglich. Es ist nicht so, dass man einseitige Schritte gehen kann in der Erwartung und mit dem Angebot, dass die andere Seite folgt - neben den Verhandlungen und der kontrollierten Abrüstung. Das gilt für beide Seiten. Allerdings ist die Nato heute erheblich stärker. Wir hatten ja das Argument der dramatischen Überlegenheit der Sowjetunion im konventionellen Bereich während des ganzen alten Kalten Krieges. Das spielte bei der Aufrüstung der Nato immer eine Rolle. Heute kann man nun ganz sicher sagen, dass die Nato konventionell überlegen ist. Man zwingt gewissermaßen Russland, atomar aufzurüsten, weil es unmöglich ist, dieser konventionellen Aufrüstung Paroli zu bieten. Also, das sind alle Zusammenhänge, die nicht thematisiert werden. Und das hat alles mit dem Punkt zu tun, das mal auch aus der anderen Perspektive zu betrachten.

Heißt das, sie wünschen sich da mehr Entspannungspolitik, mehr Entgegenkommen der Bundesregierung zu Russland, mehr Gespräche?

Ich wünsche mir mehr Interesse an Russland, mehr Verständnis für Russland, zu begreifen, dass die Ereignisse der Jahre um 1990 aus russischer Perspektive etwas anders aussehen. Russland hat heute Grenzen, die ungefähr denen des mittleren 17. Jahrhunderts entsprechen. Das gibt eine völlig andere Perspektive. Auch was das Verhalten des Westens in den Jelzin-Jahren betrifft, dass das bei der Mehrzahl der Russen - und zwar nicht nur bei den Fans von Wladimir Putin - den Eindruck erweckt, wir sollen hier klein gemacht werden, wir sollen ausgeschaltet werden. Es ist sogar von einigen Politikberatern formuliert worden. Das sind alles verständliche Reaktionen. Das heißt nicht, dass ich jede Wahrnehmung und jede Aktion der russischen Seite befürworte. Da kann man durchaus kontrovers sein. Aber ich versuche es zu begreifen, warum dort so gehandelt wird, wie man handelt. Ich würde sehr viel mehr Verständnis von der deutschen Seite erwarten und erhoffen, als es der Fall ist.

Die SPD ist heute an der Bundesregierung beteiligt und erinnert immer wieder an die Sätze von Willy Brandt. Warum gibt sich der Außenminister Heiko Maas (SPD) bei der Frage der Friedenspolitik so zurückhaltend?

Das kann ich nicht beantworten, das müssen Sie Herrn Maas fragen. Ich bin auch nicht die SPD. Ich bin Mitglied dieser Partei. Als solche artikuliere ich eine Meinung, von der ich den Eindruck habe, dass sie sehr viel breiter in der Partei vertreten ist, als vielleicht in der offiziellen Politik deutlich wird.

Die Linke fordert als Partei eine deutlichere Friedenspositionierung im Hinblick auf den Iran, im Hinblick auf die Ramstein Air Base, von wo aus US-Luftangriffe geführt werden.

Das ist ja de facto exterritoriales Gebiet. Da erwarte ich von der deutschen Regierung, dass sie da Souveränität herstellt.

Also, das wäre durchaus auch ihre Position, dass Deutschland sich hier stärker positioniert?

Absolut. Deutschland könnte an der Stelle in der EU deutlicher eine Führungsrolle übernehmen. Ich habe nie etwas anderes vertreten. Aber natürlich fällt auf, dass die offizielle Politik der Bundesregierung doch sehr stark auf Nato-Konformität orientiert ist. Die Sorge da in den Gegensatz zu geraten – nicht nur zu den USA, ist doch sehr groß.

Stichwort: Atomwaffenverbotsvertrag. Auch ein Thema?

Ja, man sollte diesen Initiativen folgen. Kein Mensch, der dieses unterstützt, hat die Illusion, dass die großen Atommächte sich einfach anschließen und sagen: Naja, wenn das die Weltgemeinschaft will… Aber es ist wichtig Druck auszuüben. Und auch die Weltöffentlichkeit ist eine Druckinstitution. Nur, man darf nie die Illusion haben, dass das alles Knall auf Hall funktioniert. Aber es gilt auch hier Bewusstsein zu verändern.

sputniknews


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