"Hat sie das so gesagt", fragt Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. "Nicht wörtlich", räumt FDP-Chef Christian Lindner ein. Dann sei er beruhigt, entgegnet Palmer. Der 47-Jährige wirbt dafür, bei den Fakten ganz genau zu sein. Dafür hat er extra ein Buch geschrieben. Und dass die Grünen-Verkehrssenatorin in Berlin alle Autos aus der Stadt verbannen wolle, "koste es,was es wolle", wie Lindner sagt, da erkundigt er sich lieber nochmal genau. Denn während sich Palmer bei der gemeinsamen Buchvorstellung in Berlin um Sachlichkeit bemüht, debattiert Lindner deutlich leidenschaftlicher – handhabt einige Fakten dabei aber mitunter etwas elastischer.
Er habe daheim dem Ruf, ein Rechthaber zu sein, sagt er. Doch er lege Wert drauf, sich vor Entscheidungen "erst einen Überblick zu verschaffen". Dem streitbaren Grünen aus Baden-Württemberg geht es auf 239 Seiten vor allem darum, dass wissenschaftliche Fakten Grundlage für jedwede politische Debatte sein mögen. Denn vielfach haben sich nach seiner Auffassung "moralische Filter über viele Entscheidungen" gelegt.
Am Ende schreibt er "Erst die Fakten, dann die Moral" über die zehn Kapitel und garniert sie noch mit zehn Thesen. Er sehe sich selbst als "radikalen Realisten", hießt es darin, und er sei überzeugt, "dass wir durch nüchterne Analysen" die "Welt besser verstehen und die Demokratie gestalten können". Auf Einladung des "Tagesspiegels" präsentiert er alles in der Hauptstadt, dort, wo ihn dauerhaft "keine sieben Pferde" hin bekämen, wie er noch vor etwas mehr als einem halben Jahr bei einem Berlin-Besuch sagte.
Zerrüttete Verhältnisse nach Vorgänger-Buch
Vor zwei Jahren hat Palmer mit Blick auf die Flüchtlingskrise mit seinem Buch "Wir können nicht allen helfen" für reichlich Aufruhr und mehrere Auflagen gesorgt. Manch Grüner und manch Grüne haben daraufhin den Kontakt zum inzwischen 47-Jährigen praktisch abgebrochen. "Es gibt Verhältnisse, die sind schlicht zerstört." Parteichef Robert Habeck nimmt er ausdrücklich aus. Die damalige Aufforderung, er möge sich doch eine andere Partei suchen, "hat mich getroffen", sagt er. An anderer Stelle sagt er, er sei "bei den Grünen aus Überzeugung und das bleibe ich auch".
Die Gefahr weiterer Verwerfungen ist beim neuen Werk des von Duz-Freund Lindner "Literat" genannten Kommunalpolitikers eher nicht zu befürchten. Viele neue Freunde dürfte er indes auch nicht gewinnen. Als jemanden, der "leidenschaftlich gern zuspitzt", "substantielle Beiträge" liefert und „immer gut für eine abweichende Meinung“ sei, beschreibt ihn Lindner. In der FDP will er ihn dennoch nicht haben. Er sei ganz zufrieden mit dem Wirbel, den Palmer in seiner eigenen Partei mache, sagt Lindner. Das mit der abweichenden Meinung zieht sich dann durch den kurzweiligen Abend. Denn auch wenn die Fakten im Mittelpunkt stehen sollen, die politischen Schlussfolgerungen können durchaus unterschiedlich sein.
Von wartenden Senioren
Da wäre etwa das Thema Wohnen. Die Faktenlage ist unstrittig. Wohnen ist teuer, Bauen ebenso und es fehlen landesweit fast zwei Millionen Wohnungen. Palmer glaubt, "wir haben alles ausgeschöpft". Deswegen macht er sich daheim auf einen Weg, der bauunwillige Grundeigentümer über ein Bau-Gebot und Zwangsgeld bis zum Prozess führen könnte. Am Ende droht die Enteignung. Lindner wiederum zweifelt nicht an den Fakten, lehnt regulatorische Eingriffe aber vehement ab. Denn das brachliegende Bauland könnte einer Seniorin gehören, die auf Sohn oder Enkel wartet, die aus der Welt dereinst heimkehren und sich just dort niederlassen wollen. Es klingt wieder sehr elastisch. Lieber möge man schneller und höher bauen. Zudem denkt der Liberale über die Sinnhaftigkeit eines 80-Quadratmeter-Single-Haushalts nach und wischt sogleich den Verdacht vom Tisch, er erwäge Wohnraumbeschränkungen.
Ähnlich verläuft der Parforceritt durch das Thema Fahrverbote. Alles Quatsch sind sich beide einig. Der Beitrag zur Feinstaub-Reduktion bewegt sich innerhalb der statistischen Fehlerspanne. Neueste Diesel zu verbieten, bringe wissenschaftlich gar nichts, sagt Palmer. Der Klimaschutz werde als Ziel verabsolutiert. Lindner sekundiert: Es gehe allein um einen "Kulturkampf gegen die individuelle Mobilität und dazu sucht man ein Mittel". Palmer überlegt, ob der Furor gegen das Auto nicht auch auf die Betrügereien eines Großteils der Branche zurückzuführen sei. Besonders des größten Herstellers, sagt Lindner und wird dann erneut sehr elastisch. Und da könne man auch mal dran erinnern, dass dort - den Namen Volkswagen vermeidet er - die IG Metall und der Staat mit am Ruder säßen und nach deren Aufsichtsarbeit fragen. "Fakten", ruft er ins unruhige Publikum.
Als Fischer noch Steine warf
Und doch kann Palmer der Verkehrswende mit weitgehend autofreien Innenstädten etwas abgewinnen, viel sogar. Weniger zugeparkte Flächen, mehr Radwege. Der leidenschaftliche Porsche-Fahrer Lindner widerspricht. Letztlich schlägt er fast schon beschwichtigend vor: "Soll der Souverän entscheiden" bei einer "Volksabstimmung über Autos in der Stadt". Der moderierende "Tagesspiegel"-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff ließ zumindest in diesem Augenblick wenig Zweifel aufkommen, dass die Zeitung diese Idee weiterzuverfolgen gedenkt.
In seinem Buch schreibe er, dass FDP und Klimaschutz nicht zusammengingen, sagt Lindner und kontert, dass Hans-Dietrich Genscher schon Umweltminister gewesen sei, als der spätere Grünen-Chef Joschka Fischer "noch Steine auf Polizisten" warf. Tatsächlich aber richtete Genscher als Innenminister in Bonn nur eine Abteilung Umwelt im Ministerium ein. Es war ein weiterer Moment Lindner‘scher Elastizität.
Und auch das Thema Energiewende ist schnell abgehandelt. Fakt ist, Atom- und Kohleausstieg sind beschlossen. Es brauche Windräder und neue Trassen, sagt Palmer. Den Ausbau-Gegnern versuche er, ihre Argumente mit wissenschaftlichen Befunden zu widerlegen. Er selbst möge Windräder übrigens. Lindner bietet indes eine Wette an, dass Deutschland in zehn Jahren Atomstrom aus Frankreich und Kohlestrom aus Polen importieren werde. Doch darauf lässt sich Palmer nicht ein. Die Zukunft lasse sich nicht mit Fakten belegen.
Quelle: n-tv.de
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