Milde für unbeugsame Mafiosi?

  13 Oktober 2019    Gelesen: 642
Milde für unbeugsame Mafiosi?

Der EuGH drängt Italien zur Abschaffung der lebenslänglichen Haft. Der Großteil der Italiener will daran festhalten. Denn ohne das Risiko, für immer hinter Gittern zu bleiben, hätten einige der grausamsten Mafia-Bosse wahrscheinlich niemals mit der Justiz zusammengearbeitet.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte traf die italienische Öffentlichkeit tief. Am Dienstag verkündeten die Richter in Straßburg, dass die Verurteilung zu lebenslänglicher Haft menschenunwürdig sei und forderten Italien zu deren Abschaffung auf. Der Großteil der Italiener reagierte entrüstet auf das Urteil. Jetzt also sollen Mafiabosse, die aufs Brutalste gemordet und gefoltert, die jeden, der sich ihnen in den Weg stellte, erschossen, erdrosselten oder in die Luft gesprengt haben, vom Staat Milde erfahren? Und das ohne jegliche Gegenleistung?

Im italienischen Gesetzbuch heißt die Strafmaßnahme "Ergastolo ostativo", was so viel bedeutet wie bedingungslose, lebenslängliche Freiheitsstrafe. Eingeführt wurde sie Ende 1992 nach den Sprengstoffattentaten, bei denen die Mafia-Jäger Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ums Leben kamen. Die zwei Staatsanwälte hatten sich den Kampf gegen die Mafia zum Lebensziel gemacht. Die Cosa Nostra erklärte dem Staat deshalb quasi den Krieg.

Zur lebenslangen Inhaftierung bietet das italienische Strafgesetz eine Alternative: eine Freiheitsstrafe von bis zu 30 Jahren. Der Betroffene kann bei guter Führung im Laufe der Zeit auch mit Vergünstigungen rechnen, zum Beispiel tagsüber außerhalb des Gefängnis arbeiten, und in manchen Fällen auch vorzeitig entlassen werden. Voraussetzung dafür ist, dass der Verurteilte mit den Ermittlern kooperiert und ein "Collaboratore di giustizia" (Mitarbeiter der Justiz) wird.

Es ist genau dieser Ausweg, der es den Sicherheitsbehörden im Laufe der Jahre ermöglichte, wichtige Informationen und Hinweise über das System Mafia zu sammeln. Besiegt ist die Cosa Nostra trotzdem noch lange nicht. Und unter den ungefähr 1250 Häftlingen, die zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt wurden, befinden sich neben Terroristen und Sexualstraftätern noch immer 957 Mafiosi, die keine Reue gezeigt und jegliche Zusammenarbeit mit der Justiz verweigert haben. Doch die Zahl der Mafiosi, die es sich anders überlegt hat, ist stetig gewachsen. Heute gibt es 1150 "Collaboratori".

Wichtiges Instrument zur Mafia-Bekämpfung

Besonders kritisch äußerte sich Maria Falcone, die Schwester des ermordeten Staatsanwalts, zum Straßburger Urteil. In einem Interview mit der Tageszeitung "La Stampa" wies sie darauf hin, dass nirgendwo anders so viele Staatsdiener wie in Italien ihr Leben im Kampf gegen die organisierte Kriminalität verloren hätten. Von Anfang der 1970er-Jahre bis zur Jahrtausendwende waren es an die 200, darunter auch der Politiker Piersanti Mattarella, der Bruder des jetzigen Staatsoberhaupts Sergio Mattarella. Ohne die Alternative zu einer lebenslangen Haftstrafe wäre es der Justiz nie gelungen, einen Keil zwischen die Mafia-Clans zu treiben, ist Maria Falcone überzeugt. "Dieses Gesetz hat die eigentliche Wende im Kampf gegen die Mafia ermöglicht." Eine Analyse, die vom italienischen Justizminister Alfonso Bonafede geteilt wird. Die Richter in Straßburg ließ er deshalb auch umgehend wissen: "Unser System ist ein Eckpfeiler im Kampf gegen die Mafia und daran wird nicht gerüttelt".

Der Sizilianer Saverio Lodato, Publizist und Autor von zahlreichen Büchern über die Cosa Nostra, wertet das Urteil besonders kritisch. Sollte die lebenslange Haftstrafe wirklich gestrichen werden, würde dies bedeuten, "sich nie von der Mafia zu befreien". Und natürlich stellt sich auch die Frage: Warum sollte in Zukunft ein Mafioso mit der Justiz zusammenarbeiten, wenn er, wie jeder andere Sträfling, ein Recht auf Hafterleichterungen und eventuell sogar auf vorzeitige Entlassung hätte? Hätte zum Beispiel der Mafiaboss Giovanni Brusca mit der Justiz zusammengearbeitet, ihr wesentliche Einblicke in das Mafiasystem gewährt, wenn er sich nicht bewusst gewesen wäre, dass ihm ansonsten eine lebenslängliche Haft drohte?

Kein Hausarrest für 150-fachen Mörder


Gerade Brusca war es, der in dieser Woche für weiteres Aufsehen sorgte. Seit 23 Jahren sitzt er im Sicherheitstrakt des römischen Gefängnisses Rebibbia. 150 Morde hat er gestanden. Er war es, der beim Attentat auf Falcone den Sprengstoff zündete. Und es war Brusca, der den gerade einmal 13-jährigen Giuseppe Di Matteo ermorden ließ, als Vergeltung dafür, dass sein Vater Santino mit der Justiz kollaborierte. Der Junge wurde auf seinen Befehl am 23. November 1993 entführt, 799 Tage in Geiselhaft gehalten und am 11. Januar 1996 erwürgt. Danach wurde sein Körper in Salzsäure aufgelöst. Mit diesem Mord war auch die letzte eiserne Regel, an die sich die Mafia bis dahin immer gehalten hatte, vom Tisch:  Frauen und Kinder nicht anzurühren. Die Attentate an Falcone, Borsellino und das grausame Ende des kleinen Matteo haben die italienische Gesellschaft gezeichnet.

Deswegen reagierte ein Großteil der Bevölkerung auch mit Unmut auf die Nachricht, dass der mittlerweile 62-jährige Brusca über seine Anwälte erneut den Antrag gestellt hat, den Rest seiner insgesamt 30-jährigen Haftstrafe im Hausarrest absitzen zu können. Ursprünglich sollte er 2022 freikommen, die Tore von Rebibbia werden sich für ihn aber wahrscheinlich schon ein Jahr früher öffnen. Da die vorhergehenden Anträge vom Strafvollstreckungsgericht zurückgewiesen wurden, wandten sich Bruscas Anwälte an das Kassationsgericht. Auch die hohen Richter kamen jedoch zu dem Schluss, dass es in diesem Fall nicht genüge, nur mit der Justiz zusammengearbeitet zu haben. Der Häftling müsse sich auch zutiefst reumütig zeigen. Und dies sei im Fall von Brusca nicht geschehen.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wuchert die Mafia-Plage. Doch erst seit ein paar Jahrzehnten scheint nicht nur der italienische Staat, sondern vor allem die Öffentlichkeit dieser die Stirn bieten zu wollen. Gerade deswegen stößt das Urteil der Straßburger Richter auf betroffenes Unverständnis.


Quelle: n-tv.de


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