Auferstanden aus Ruinen

  25 Oktober 2019    Gelesen: 608
Auferstanden aus Ruinen

Im wiedervereinigten Deutschland hatte der kleinste Landkreis Thüringens eine denkbar schlechte Ausgangsposition: die Spielzeugindustrie am Boden, die Arbeitslosigkeit hoch. Heute erzählt Sonneberg eine Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung, die kaum einer kennt.

Wer mit dem Zug nach Sonneberg fährt und am Hauptbahnhof aussteigt, kommt am Rathaus der südthüringischen Stadt unter Garantie nicht vorbei. Mächtig, weiß und hoffnungslos überdimensioniert für einen Ort mit knapp 24.000 Einwohnern erschlägt es jeden, der aus dem Bahnhofsgebäude ins Freie tritt, mit seiner schieren Größe. In den 1920ern erbaut zeugt der Prachtbau von einer gewissen Großmannssucht - und tatsächlich stammte damals jedes fünfte weltweit verkaufte Spielzeug aus Sonneberg. Der Ruf als "Weltspielwarenstadt" ist geblieben, auch wenn von über 300 produzierenden Unternehmen nur eine Handvoll übrig geblieben ist. Schlecht geht es den Sonnebergern deswegen aber nicht - ganz im Gegenteil.

Schon seit mehreren Jahren liegt die Arbeitslosenquote im kleinsten Landkreis Thüringens stabil zwischen drei und vier Prozent - die Sonneberger sind damit nicht nur im Landesvergleich ganz vorne dabei, sondern liegen auch deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt von 4,9 Prozent. Über 100 Unternehmen haben sich seit der Wende hier angesiedelt, dabei mehr als 2000 Arbeitsplätze geschaffen. Und seit 2013 ist Sonneberg als einziger ostdeutscher Landkreis Teil der Metropolregion Nürnberg. Die Geschichte des Erfolges ist unter anderem eine Erfolgsgeschichte der (wirtschaftlichen) Wiedervereinigung, wie man sie auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch viel zu selten erzählen kann.

"Sonneberg feiert fränkisch fröhlich", steht in großen Lettern auf einem Banner, das quer über das mächtige Säulenportal des Rathauses gespannt ist. Links und rechts davon zappeln nicht etwa der thüringische oder der sonnebergische Löwe am Fahnenmast, sondern gleich zwei rot-weiße Frankenflaggen. Auf dem Weg durch die hübsch hergerichtete Fußgängerzone hinter dem Rathaus wirbt ein großes Plakat für den "Tag der Franken", der jedes Jahr am 2. Juli zelebriert wird (ausgerechnet vom bayerischen Landtag initiiert). Und wer auf der Straße einfach mal die Augen schließt und die Ohren spitzt, hört einen breiten mainfränkischen Zungenschlag, den wohl kaum jemand in Thüringen verorten würde.

Anders als die anderen


"Wir unterscheiden uns auf vielen Gebieten vom Rest Thüringens", bestätigt Christian Dressel den ersten Eindruck. Der gebürtige Sonneberger ist stellvertretender Bürgermeister der Stadt und hat als studierter Soziologe einen geschärften Blick für die kulturellen Eigenheiten der Region. "Die Sprache ist der markanteste Unterschied, aber auch die Wirtschaftsstruktur ist hier eine andere als im Rest des Landes." Während benachbarte Landkreise an der ehemaligen Grenze wie das thüringische Saalfeld-Rudolstadt und das bayerische Kronach auch 30 Jahre nach der Wende noch miteinander fremdeln, sind Sonneberg und seine südlichen Nachbarn, allen voran Coburg, schon seit Jahren eng miteinander vernetzt.

Es gibt den gemeinsamen Wirtschaftsförderverein "WIR - Vom Rennsteig bis zum Main", einen landkreisüberspannenden Klinikverbund namens Regiomed, den Tourismusverband "Coburg.Rennsteig - grenzenlos fränkisch" und noch diverse weitere Beispiele für die erfolgreiche länderübergreifende Zusammenarbeit. "Unser Erfolg lässt sich nur durch die Vernetzung und Verschränkung mit dem oberfränkischen Wirtschaftsraum erklären", sagt Dressel. Unten in der Fußgängerzone bestätigen zwar die meisten Passanten die Erklärung des stellvertretenden Bürgermeisters, äußern aber gleichzeitig die leise Vermutung, von den bayerischen Nachbarn abhängig zu sein.

Das sei schon lange nicht mehr der Fall, widerspricht Dressel. Klar, in den Nachwendejahren, als Sonneberg noch mit Arbeitslosenquoten um die 20 Prozent zu kämpfen hatte, sei die Pendlerstatistik eine Einbahnstraße gewesen. Heute hat sich das Verhältnis aber entspannt: Rund 3000 Menschen fahren jeden Tag nach Coburg zur Arbeit, 2200 pendeln dafür aus dem Nachbarlandkreis ein. "Daran merkt man, wie wichtig Sonneberg zwischenzeitlich für den Wirtschaftsraum Oberfranken und Coburg geworden ist."

Auf der Suche nach der richtigen Nische


Die Fixierung auf die fränkischen Nachbarn hat allerdings auch zur Folge, dass sich die Sonneberger immer weiter von ihren Landsleuten entfernen: Subventionen fließen im Landesvergleich eher spärlich, auch der Anteil an Landesbediensteten ist unterdurchschnittlich - was aber wohl auch damit zu tun hat, dass die Sonneberger eher selten den Weg in den Erfurter Landtag suchen und deshalb auch kaum jemand für die Interessen der Region eintritt. "Wenn Sie jetzt nach Jena gehen, diesem wie aus dem Nichts entstandenen Leuchtturm, der als Paradebeispiel des ostdeutschen Aufschwungs gefeiert wird, sehen Sie, dass dort jeder vierte Beschäftigte staatlich subventioniert ist", sagt Dressel. "Dort sitzen auch die Hochschulen und dort ist mit viel Kraft und öffentlichem Geld etwas Positives entstanden. Unseren Erfolg haben wir uns dagegen selbst erarbeitet." Dressel ist stolz, dass in Sonneberg niemand nachhelfen musste, es schwingt aber auch ein gewisser Trotz in seiner Stimme mit.

Vielleicht denken sie deshalb in Sonneberg auch immer mal wieder laut darüber nach, das Bundesland zu wechseln - zuletzt vor der (gescheiterten) Gebietsreform, bei der der Landkreis mit Suhl und Hildburghausen zusammengelegt werden sollte. Trotz aller Verbundenheit mit den bayerischen Franken wäre das aber wohl ein Schnitt ins eigene Fleisch, schließlich hat Sonneberg eine einzigartige "Scharnierfunktion zwischen Nordbayern und Mitteldeutschland" inne, wie Stefan Hinterleitner betont. Der gelernte Journalist ist erst im August vom benachbarten Coburger ins Sonneberger Rathaus gewechselt, um einerseits die Öffentlichkeitsarbeit der Stadt zu steuern - vor allem aber, um das Thema Wasserstoff voranzubringen.

Wasserstoff-Valley in der mitteldeutschen Provinz? Klingt leicht größenwahnsinnig, ist aber gar nicht so abwegig, weil die Sonneberger sehr genau um ihre Stärken und Schwächen wissen. "Natürlich fehlen uns die universitären Strukturen, um vernünftige Grundlagenforschung zu betreiben", sagt Hinterleitner. Aber ein Institut für angewandte Wasserstoffforschung, das ist nicht nur denkbar, es gibt sogar bereits ein passendes Businesskonzept, das die Anschubfinanzierung sichern soll. "So verlängern wir die Wertschöpfungskette und stehen nicht immer nur an deren Ende" (wie bislang als Knotenpunkt für Zuliefererbetriebe für die Autoindustrie, Anm.d.Red.). Entscheidend ist aber der Zeitpunkt des Vorstoßes: Thüringen und Bayern haben Wasserstoff fast zeitgleich als vielversprechende Zukunftstechnologie für sich entdeckt, Sonneberg will sich als länderübergreifender Vermittler zwischen den großen Forschungsstandorten positionieren und vom Austausch profitieren.

So agil wie sonst nur Startups


Die Bereitschaft, frühzeitig aus der Komfortzone herauszutreten und umzudenken, bevor Not am Mann ist, unterscheidet Sonneberg von vielen anderen kleinen Kommunen. Aber es helfe ja ohnehin nichts, den Kopf in den Sand zu stecken und stur weiterzumachen, sagt Hinterleitner: "Wir haben uns in den letzten Jahren auf einem wahnsinnig hohen wirtschaftlichen Gesamtniveau bewegt. Unsere Aufgabe muss es trotzdem bereits jetzt sein, geschickte Nischen zu finden, um diesen Wirtschaftsstandort, dem es heute so gut geht, für den mit Sicherheit kommenden Abschwung zu wappnen."

Auch deshalb gibt es in der Stadt einen der wenigen 24-Stunden-Kindergärten Deutschlands sowie diverse andere clevere Konzepte, die es Unternehmern und Arbeitnehmern gleichermaßen so einfach wie möglich machen sollen, hier Fuß zu fassen. Teilweise agiert die Stadtverwaltung dabei so agil, wie man es sonst nur von Startups kennt, die Mühlen der Bürokratie mahlen in Sonneberg tatsächlich schneller als anderswo. Oder wie es Hinterleitner formuliert: "Wenn hier jemand anruft und etwas starten will, dann geht es uns nicht darum, zu erklären, warum wir vielleicht nicht zuständig sind oder an irgendjemanden zu verweisen, der eventuell zuständig sein könnte - sondern es geht dann darum, mit dem Unternehmer zusammen an Lösungen zu arbeiten." Das Gefühl, hier wirklich etwas bewegen zu können, sei im Übrigen auch einer der Gründe für seinen Wechsel ins Sonneberger Rathaus gewesen.

Dass eine Stadtführung so flexibel auf die wirtschaftlichen Probleme der Nachwendezeit reagierte und auch heute noch ohne Scheuklappen aktuelle Herausforderungen angeht, wie man es sonst eher selten bei kommunalen Behörden sieht, ist keine Erfindung des Pressesprechers. Auch die ansässigen Unternehmer loben die unkomplizierte und unbürokratische Zusammenarbeit: "Wir haben in Sonneberg eine Verwaltung, die bereit ist, Wege zu gehen, und die einfach anders ist", sagt Lutz Lange, der in der Stadt unter anderem ein Spielzeughotel und das örtliche Spaßbad betreibt. "Du hast da unten Leute, die du begeistern kannst und die du mitnehmen kannst."

Chancen wittern, wo andere Probleme sehen


Lange spricht von "da unten", weil er selbst von viel weiter "oben" kommt, genauer aus dem brandenburgischen Wittenberge. Als die Stadt Sonneberg vor 20 Jahren ein Spaßbad bauen wollte, lud man Lange als Berater ein, denn der hatte damit schon in seiner Heimat Erfahrung gesammelt. "Einmal und nie wieder", erinnert sich der Unternehmer an das Gefühl, als er damals nach siebeneinhalbstündiger Zugfahrt völlig entnervt am Sonneberger Hauptbahnhof ausgespuckt wurde. Dann schaute er sich die Stadt an, lernte die Verwaltung kennen und entschied sich zu bleiben - drei Tage in der Woche, jede Woche (außer im Urlaub), seit mittlerweile 20 Jahren.

Lange ist ein Mensch, der Chancen wittert, wo andere Probleme sehen - insofern war Sonneberg damals das perfekte Pflaster für den Unternehmer. Heute bewegt sich die Stadt zwar in ruhigerem Fahrwasser, leuchtende Augen bekommt der Wittenberger aber immer noch, wenn er von den vielen Möglichkeiten schwärmt, mit denen er das Profil der Stadt - von der er liebevoll in der ersten Person Plural spricht - weiter schärfen will. "Eine Stadt lebt vom Image. Das ist in dem Fall Spielzeug. Wir waren Weltspitze. Wir sind immer noch Spielzeugstadt und haben ein Spielzeugmuseum. Da gibt's nur eins in Deutschland. Wenn sich Sonneberg weiterentwickeln soll, müssen wir also das nach vorne bringen, was diese Stadt ausmacht."

Erst vor Kurzem hat Lange deshalb das Bahnhofsgebäude gekauft, um daraus in Zusammenarbeit mit den Spielzeugherstellern der Stadt einen Themenbahnhof zu machen: "Wenn die Gäste bei uns ankommen, sollen sie sich fühlen wie bei Alice im Wunderland. Herzlich willkommen in der Spielzeugstadt, das ist doch eine tolle Begrüßung." Das alles macht Lange zwar mit Begeisterung, aber natürlich nicht nur für den guten Zweck: "Ich würde in Sonneberg nicht so viel investieren, wenn ich nicht wüsste, dass es funktioniert."

Zukunftsangst mal zwei


Und tatsächlich scheint es nicht nur für Sonnebergs Unternehmer und Politiker zu funktionieren, auch auf der Straße zeigen sich die allermeisten Bürger zufrieden. Das übliche Gemecker ist hier verhaltener als anderswo, dafür ist erstaunlich oft zu hören: "Es geht mir gut." Noch erstaunlicher ist allerdings, dass auch hier ein knappes Viertel der Menschen am Sonntag wohl die AfD wählen werden. Warum, wenn es ihnen doch so gut geht?

Christian Dressel versucht sich an einer Erklärung: "Das ist jetzt erstmal nur eine Hypothese, aber auffällig ist doch, dass in den alten Ländern die Grünen viel Zulauf erhalten und in den neuen eher die Blauen. Ich denke, das hat in beiden Fällen mit einer gewissen Zukunftsangst zu tun." Nur seien das bei der "Erbengeneration mit stabiler ökonomischer Basis" im Westen eher langfristige Ängste, also vor allem das Klima. Im Osten, wo der relative Wohlstand noch frisch ist, habe man dafür eher Angst vor kurzfristigem Verlust: "Wir hatten mal eine Arbeitslosenquote von 15 bis 20 Prozent, und weil dieser Bevölkerungsanteil erst seit wenigen Jahren in der Lage ist, sich etwas leisten zu können und gleichzeitig schon wieder die Angst entsteht, das kurzfristig wieder zu verlieren, sind gewisse Abgrenzungstendenzen verständlich."

Apropos Abgrenzungstendenzen: So sehr sich die Sonneberger in ihrem Wesen fränkisch fühlen und so sehr sie nach Süden drängen, so deutlich zeigt sich an der Wahlurne dann eben doch, wie viel Thüringen tatsächlich in ihnen steckt - nicht nur was die AfD betrifft, auch die Linke ist hier mit 18 Prozent so stark, wie das ein paar Kilometer weiter in Bayern niemals vorstellbar wäre. Das muss aber nun beileibe nichts Schlechtes sein, ganz im Gegenteil: Die Öffnung nach Oberfranken hat gezeigt, wie wertvoll die Verschränkung von Wirtschaftsregionen sein kann. Eine größere Vernetzung mit dem Rest des eigenen Bundeslandes wäre also nur der nächste logische Schritt. Oder, um es mit Christian Dressel zu sagen: "Der Schlüssel ist, sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen, sondern sich sinnvoll zu ergänzen. Wenn wir das weiterhin schaffen, schaffen wir etwas, das größer ist als die Summe seiner Teile." Große Worte, allerdings haben die Sonneberger in der Vergangenheit schon öfter bewiesen, dass sie keine leeren Versprechungen machen. Die Zukunft wird zeigen, ob das auch weiterhin so bleibt.

Quelle: n-tv.de


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