„Es gibt täglich Proteste“, erzählt der Südamerika-Korrespondent Roland Peters von Chile. Der Journalist war gerade selbst für einige Tage in der Hauptstadt Santiago de Chile. Vergangenen Freitag hat er die dritte große „Marcha“ Demonstration miterlebt. Dort protestieren unter anderem Ärzte gegen die schlechten Bedingungen im öffentlichen Gesundheitssektor und Rentner für bessere Renten. Besonders auffällig sei allerdings, dass der Altersdurchschnitt bei diesen Demos sehr niedrig sei. Vor allem jüngere Leute, die die Diktatur nicht mehr miterlebt haben, gehen auf die Straße. Die Diktatur des Generals Augusto Pinochet endete 1990.
Polizisten als Feindbild
„Die Spannungen zwischen Sicherheitskräften und Bevölkerung sind sehr stark“, berichtet Peters. Die chilenische Polizei ist sehr militarisiert.
„Während ich da war, war es völlig gang und gäbe, dass die Leute einfach Polizisten angebrüllt haben, obwohl gerade gar keine konkrete Konfrontation war. Leute die auf dem Fahrrad an Polizisten vorbei gefahren sind, die ihnen ‚Mörder‘ entgegengeworfen haben, oder ‚Scheiß-Polizisten‘ und Ähnliches.“
In der gesamten Innenstadt von Santiago sei alles mit Parolen vollgesprüht: Rücktrittsaufforderungen an Sebastián Piñera und mit Sprüchen wie: „Es sind keine 30 Pesos, sondern 30 Jahre“. 30 Pesos war die Preiserhöhung der Metro an der sich die ersten Proteste entzündet hatten und 30 Jahre verweist auf die 30 vergangenen Jahre unter der Verfassung Pinochets.
Tränengas auf Verdacht
„Die Polizei geht mitunter sehr brutal vor“, berichtet Peters. Die Polizei rücke vor und schmeiße Tränengas auf Verdacht. Vor Einbruch der Dunkelheit würden die Demonstrationen meistens aufgelöst und die Plätze geräumt, falls sich da Leute sammeln wollen. Menschenansammlungen ab einer gewissen Größe sollten gar nicht erst entstehen. Wie die Polizei da vorgeht hat Peters selbst miterlebt:
„Dann kommt der Panzer, oder das gepanzerte Fahrzeug, und schießt zwei, drei Tränengaskartuschen aus der Entfernung, fährt dann mit voller Geschwindigkeit an der Gruppe vorbei und sprüht aus den Seiten des Fahrzeugs Tränengas. Ich bin jeden Tag in mehrere Wolken des Reizstoffes hineingelaufen, obwohl ich überhaupt keinen Anlass dafür gesehen habe. Santiago ist praktisch in eine Tränengaswolke gehüllt.“
Neoliberales Experiment Chile
Chile ist eines der ungleichsten Länder der Welt, in dem ein Prozent der Bevölkerung über mehr als ein Viertel des Reichtums verfügt, während der Großteil der Bevölkerung mit rund 430 Euro Mindestlohn über die Runden kommen muss. Verantwortlich dafür sind die sogenannten „Chicago Boys“. Das waren in den USA ausgebildete chilenische Ökonomen, die in den 80er Jahren die Militärdiktatur berieten. Man wollte Schluss machen mit den Umverteilungsideen der sozialistischen Vorgängerregierung unter Salvador Allende. Der Markt sollte wieder wachsen.
So zog der Neoliberalismus der „Chicagoer Schule“ des Ökonomen Milton Friedman in Chile ein. Die „Chicago Boys“ schrumpften den Staat zusammen, privatisierten von der Autobahn bis zu Krankenhäusern, Gefängnissen und Grundschulen sowie den ertragreichen Kupferminen alles, was an solvente Geldgeber abzugeben war.
70 Prozent der Haushalte sind überschuldet
Die Protestierenden in Chile haben mehrere Forderungen: Die Demonstranten verlangen unter anderem höhere Untergrenzen für Löhne und Renten, günstigere Medikamente und eine neue Verfassung, die das Grundgesetz aus den Zeiten des Diktators Augusto Pinochet ersetzen soll.
Das aktuelle Rentensystem besteht aus privaten Aktienfonds, den „Administradoras de Fondos de Pensiones“ (AFP). Die AFP bedienen in einem „oligarchischen System“ die Rentenansprüche von rund elf Millionen Chilenen. Die Auszahlungen sind sehr niedrig und liegen unter dem Mindestlohn. So müssten eigentlich alle Rentner, die nicht zusätzlich noch etwas gespart haben, von ihren Kindern unterstützt werden. Die sind aber selbst sehr belastet durch die hohen Lebenserhaltungskosten. Der Transport kostet teilweise bis zu einem Drittel des Einkommens, erklärt Peters. Die Studiengebühren kosten je nach Studiengang bis zu einem Mindestlohn pro Monat. Das Resultat: 70 Prozent der Haushalte sind überschuldet.
Piñera will Sicherheit erhöhen
Mitten in diesen aufgeheizten Zeiten kündigte Präsident Piñera letzte Woche eine Sicherheitsagenda an. Eckpunkte davon sind die Erhöhung des Budgets von Polizei, bessere Luftüberwachung, ein Vermummungsverbot und höhere Strafen für Vergehen im Zusammenhang mit Demonstrationen.
„Auf der anderen Seite gibt es massive Menschenrechtsverletzungen der Polizei“, sagt Peters. Offiziell sind es mehr als 20 Tote, die Dunkelziffer dürfte höher liegen, und viele Verletzte. Vor allem Augenverletzungen sind gang und gäbe. Viele hätten ihr Augenlicht verloren oder seien auf einer Seite blind geworden. Gummigeschosse, Schrotkugeln und Tränengas sind die Waffen der Stunde der Polizei. Auch Minderjährige sind betroffen und es gibt viele Berichte über Folterungen.
Traumatisiertes Land
Der Journalist Roland Peters glaubt, dass das aggressive Gebaren der Sicherheitsbehörden der Regierung Piñera die letzten Sympathien nehmen könnte:
„Die junge Generation, die auf die Straße geht, hat die Diktaturzeiten nicht erlebt. Deswegen ist ja auch der Wahlspruch: ‚Wir haben keine Angst‘. Die andere Generation, ab 30 aufwärts, bei denen sieht das natürlich anders aus, die haben in ihrer Kindheit und in ihrer Jugend die Angst vor dem Militär gelernt. Leute mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, es packt sie mit der Angst, wenn sie Hubschrauber in der Luft hören, oder als sie aus dem Fenster geguckt haben, während des Ausnahmezustandes und die Panzer an ihrem Fenster vorbeigerollt sind.“
Es gebe Videos von Polizisten, die Leichen oder leblos wirkende Körper mitnehmen würden. Da würden ganz viele Erinnerungen wach. Peters glaubt, dass dies ein großer Teil des Problems für die Regierung sei. Dadurch seien die meisten Bevölkerungsschichten nicht einverstanden damit, wie Piñera und die Sicherheitskräfte vorgehen würden. „Weil es dieses nationale Trauma der Diktatur gibt, was nur bedingt aufgearbeitet worden ist.“
Jüngsten Umfragen zufolge, sind 78 Prozent der Chilenen für eine neue Verfassung, für eine nur zu diesem Zweck konstituierte Verfassungsgebende Versammlung 54 Prozent. Für Piñera sprechen sich 15 Prozent der Befragten aus, gegen ihn 79 Prozent. Peters Meinung nach könnte nur eine neue Verfassung die Stimmung in Chile befrieden.
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