Der 67-jährige frühere nordrhein-westfälische Finanzminister steht neben Esken, legt die Hände gefaltet aufs Pult. “In die neue Zeit” verspricht das Parteitagsmotto in Schwarz-Rot in seinem Rücken, als Esken begründet, warum der Leitantrag Gespräche mit der Union anstelle eines Abschieds vom Koalitionspartner vorsieht. 75,9 gegen 89,2 Prozent - Esken startet mit weniger Rückhalt als Walter-Borjans. Sie wollen sich nicht auseinanderdividieren lassen - wie auch der Parteitag geprägt ist vom Bemühen, Gräben zwischen Gegnern und Befürwortern der Koalition mit der Union zu überwinden.
VIZEVORSITZ: Der Parteitag hat kaum begonnen, da wird am Vormittag schon die erste mögliche Klippe auf dem Harmoniekurs umschifft. Eine Abstimmung zwischen Juso-Chef Kevin Kühnert und Arbeitsminister Hubertus Heil drohte die Lager zu spalten. Der Beifall für einen kämpferischen Heil zeigte später, dass der Niedersachse mit der Kandidatur als Parteivize gegen den populären, redegewandten Juso-Chef und Koalitionskritiker keineswegs auf verlorenem Posten stand. Doch die Befürworter der Koalition befürchteten eine weitere Klatsche. Die Lösung: Kurzerhand wird die Zahl der Stellvertreter von drei auf fünf erhöht. Aus der SPD heißt es, Esken habe sich gesträubt, diese Brücke zum Kompromiss zu gehen, dann aber eingelenkt. Die Vermehrung auf fünf Vizeposten wird am Abend beschlossen.
SCHOLZ-FAKTOR: Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz erfuhr auf dem Parteitag für ihn ungewohnte Unterstützung. Als die scheidende Parteivorsitzende Malu Dreyer ihn für die Erfolge in der Koalition lobt, erhält er anhaltenden Beifall. Das kennt der Wortführer der Befürworter eines Verbleibs in der Koalition, der in einer Umfrage so beliebt ist wie nie, sonst kaum auf Delegiertentreffen. Scholz wirbt für die Koalition, dort könne die SPD Einfluss nehmen: “Darum geht es doch.”
HARMONIE-KNACKS: Ein Viertel der Delegierten verweigert sich dem Auftrag von fast 115.000 SPD-Mitgliedern, die dafür gesorgt hatten, dass Esken und Walter-Borjans beim Basisvotum über den Parteivorsitz vorne lagen. Der Parteitag ist daran nicht gebunden. Eskens Vorgängerin in dem Amt, Andrea Nahles, war im April 2018 bei den Delegierten allerdings nur auf 66 Prozent gekommen. Das im Vergleich zu Walter-Borjans schlechtere Ergebnis für Esken sei die Quittung dafür, dass die 58-jährige Bundestagsabgeordnete die SPD-Erfolge in der Koalition beim Mitgliedervotum schlechtgeredet habe, lautet der Vorwurf aus den Reihen der Regierungs-Pragmatiker. Walter-Borjans unterstreicht: “Wir wollen diese Partei zusammenführen.”
KOALITIONSFRAGE: Etwa drei Stunden debattieren die Delegierten beim Leitantrag über die Frage, ob die Weichen gestellt werden sollen für “An Nikolaus ist Groko-Aus”, wie die Jusos auf ihrem Bundeskongress vor kurzem noch getextet hatten. Eine Delegierte sagt, sie würde gerne zuhause auf dem Marktplatz verkünden können: “Die große Koalition ist zuende.” Ein anderer Delegierter fordert “keine Politik für die Haushaltszahlen, sondern für die Menschen”. Doch alle von Rang und Namen halten dagegen: Bundesminister, Vertreter der Bundestagsfraktion, der SPD-Chef des größten Landesverbandes Nordrhein-Westfalen. Die Debatte verläuft sachlich, reißt keine neuen Wunden auf. Selbst Juso-Chef Kühnert ruft dazu auf, den neuen Parteivorsitzenden das Vertrauen für Gespräche mit der Union auszusprechen: “Ich nehme nicht wahr, dass irgend einer Oppositionssehnsucht in sich trägt.”
Dennoch kommt ein Antrag zur Abstimmung, der fordert: “Wir wollen jetzt für eine andere Politik kämpfen und die Große Koalition beenden.” Mit großer Mehrheit wird er abgelehnt, während der Leitantrag mit “übergroßer Mehrheit” angenommen wird. Die Sitzungsleiterin, die designierte SPD-Vizechefin Anke Rehlinger, stellt fest: “Damit ist eine klare Handlungsempfehlung gegeben für die nächsten Wochen und Monate.” Mit der Union soll über einen höheren Mindestlohn, mehr Investitionen und besseren Klimaschutz verhandelt werden. Vorerst ist die Koalitionsfrage beantwortet.
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