Menschenrechtler fordern Entschuldigung von Chiles Präsident

  17 Dezember 2019    Gelesen: 786
Menschenrechtler fordern Entschuldigung von Chiles Präsident

Sexuelle Gewalt, willkürliche Festnahmen, Folter: Die Uno kritisiert das Vorgehen von Polizei und Armee in Chile gegen Regierungskritiker. Präsident Piñera ist verärgert - und ignoriert die Vorwürfe.

Sebastián Piñera brauchte Zeit, um sich zu sortieren. Es dauerte fast den ganzen Freitag, bis sich der chilenische Staatschef zu einem Bericht der Uno-Menschenrechtskommission äußerte, der Polizei und Armee schwere Menschenrechtsverstöße während der andauernden sozialen Krise vorwirft.

Auf einer Parteiveranstaltung am Freitagabend kritisierte der konservative Präsident den Bericht zwar nicht direkt, aber man merkte seinen Worten an, dass ihm die Schlussfolgerungen nicht gefielen. Irgendwie schwang in seiner langen Rede persönliche Kränkung mit, als er sagte, vor zwei Monaten habe eine "Welle der Gewalt" begonnen, die "wir in unserem Land nicht kannten". Gerade so, als seien die Proteste ein Naturphänomen und nicht eine Reaktion auf die erdrückende wirtschaftliche Lage der Mehrheit seiner Landsleute, die einem extremen neoliberalen Wirtschaftsmodell geschuldet ist.

Piñera beharrte darauf, dass seine Regierung immer darauf achte, "dass die Menschenrechte in Chile vollumfänglich" zur Geltung kämen. "Zu jeder Zeit, an jedem Ort und unter allen Umständen", betonte der Staatschef. Kein Wort sagte er zu den sehr konkreten Vorwürfen in dem 35-seitigen Uno-Bericht gegen die chilenischen Sicherheitskräfte.

Chilenische Menschenrechtler kritisieren Präsident Piñera

Die Menschenrechtlerin Lorena Fries wundert das nicht. "Piñera versucht, die Plünderungen und Aggressionen von Teilen der Demonstranten mit der systematischen Repression von Polizei und Armee gleichzusetzen", sagte die Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation "Corporación Humanas" dem SPIEGEL.

Der Präsident wirke verärgert und werfe dem Uno-Hochkommissariat sogar vor, "sich in nationale Angelegenheiten eingemischt zu haben ", weil es politische Empfehlungen ausgesprochen habe. "Dabei hat Piñera die Beobachter doch selbst eingeladen." Nach dem Bericht sei seitens der Präsidenten eigentlich eine "große Geste der Entschuldigung" fällig, sagt Fries. Aber die werde kaum kommen.

Die Vereinten Nationen hatten am Freitag in Genf nach einem dreiwöchigen Besuch in Chile im November einen vernichtenden Bericht vorgelegt. "Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass von 18. Oktober an eine erhöhte Zahl an schweren Menschenrechtsverletzungen begangen wurde," fasst das Dokument zusammen.

"Exzessiver oder unnötiger Einsatz von Gewalt"

Diese Verstöße beinhalteten "den exzessiven oder unnötigen Einsatz von Gewalt, der mit Tod, Verletzungen oder Folter sowie Misshandlung, sexueller Gewalt und willkürlichen Festnahmen endete." Von den 26 Todesfällen müssten mehrere als außergerichtliche Hinrichtungen eingestuft werden. Die Polizei sei zudem "grundlegend repressiv" gegen friedliche Demonstranten vorgegangen, befinden die Vereinten Nationen.

Dementsprechend hat das "Nationale Menschenrechtsinstitut" (INDH) mittlerweile 792 Verfahren gegen Polizisten und Soldaten angestrengt, darunter fünf wegen Mordes und zwölf wegen versuchten Mordes. "In den vergangenen Tagen häufen sich sogar Berichte, wonach Polizisten ihre Tränengasgranaten direkt auf die Körper von Demonstranten feuern", kritisiert INDH-Direktor Sergio Micco gegenüber dem SPIEGEL.

Ärzte und Chemiker warfen der Polizei am Montag zudem vor, Ätznatron in das Wasser zu mischen, das die Wasserwerfer auf Demonstranten feuern. Das habe die Analyse einer Probe ergeben, die das Kollektiv "Gesundheitsbewegung im Widerstand" (MSR) in Auftrag gegeben hat. Ätznatron führt bei Menschen zu Verbrennungen. Die Polizei wies die Anschuldigung zurück und versicherte, sie mische dem Wasser kein Ätznatron bei

Mit ihrem Bericht bewegt sich die Uno-Kommission, der pikanterweise die chilenische Ex-Präsidentin und Vorgängerin im Amt von Piñera, Michelle Bachelet, vorsteht, auf der gleichen Linie wie zuvor schon Amnesty international und Human Rights Watch (HRW). Auch sie hatten Polizei und Armee hart für das Vorgehen bei den Demonstrationen kritisiert.

Fast 5000 Verletzte - in zwei Monaten

Seit zwei Monaten gehen in der früheren südamerikanischen Musterrepublik weite Teile der Gesellschaft gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik auf die Straße und fordern eine gerechtere Gesellschaft. Bei den teilweise brutal geführten Auseinandersetzungen wurden fast 5000 Menschen verletzt, darunter 2800 Polizisten. Die Uno-Beobachter stellten auch zahlreiche Angriffe auf Sicherheitskräfte sowie öffentliche und private Einrichtungen fest. Zudem kritisierten sie die massiven Plünderungen.

Zuletzt sind die Demonstrationen deutlich abgeflaut und finden gewöhnlich nur noch einmal die Woche, immer freitags statt. Vergangenen Freitag kam es auf der Plaza Italia, dem Zentrum der Proteste, am Rande eines Solidaritätskonzerts zu Zusammenstößen zwischen Teilnehmern und der Polizei. Rund 100 Verletzte seien anschließend zu beklagen gewesen, meldeten die Behörden.

"Die Herausforderung wird sein, den Druck der Straße auf die Regierung auch über Weihnachten und in den Sommermonaten aufrecht zu erhalten", sagt Lorena Fries. Ab März würde dann die Kampagne für das Referendum zu einer Verfassungsänderung starten, das für April geplant ist. Nach einer jüngst veröffentlichten Umfrage des Forschungsinstituts DESOC und der Universität von Chile wollen neun von zehn Chilenen an dem Plebiszit teilnehmen. Und 85,5 Prozent von ihnen planen demnach, für eine neue Verfassung zu stimmen.

spiegel


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