Was Afrikaner von der Flucht abhalten könnte

  08 Februar 2016    Gelesen: 806
Was Afrikaner von der Flucht abhalten könnte
Nur wenige der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, stammen aus Subsahara-Staaten. Der Ausbau erneuerbarer Energien kann verhindern, dass noch mehr Afrikaner fliehen.
Von den mehr als eine Million Flüchtlingen, die 2015 offiziellen Angaben zufolge nach Deutschland gekommen sind, stammt bislang nur ein kleiner Teil aus Afrika, überwiegend aus den Staaten Eritrea, Nigeria und Somalia. Das könnte sich bald ändern, denn vielerorts breiten sich Chaos und Terror aus und treiben immer mehr Menschen in die Flucht. Laut dem "Index der fragilen Staaten" des amerikanischen Fund for Peace erstreckt sich quer durch Afrika ein Krisengürtel. Die angrenzenden mehr oder weniger stabilen Staaten sind mit der Versorgung der Vertriebenen schon lange überfordert, sodass für immer mehr Menschen der gefährliche Weg nach Europa zur letzten Option wird.

In Afrika scheitern viele Länder daran, ihre Bürger mit dem Nötigsten zu versorgen, es fehlt vor allem an Arbeitsplätzen, denn die Bevölkerung wächst schneller als die Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben zu gestalten. Unter vielen jungen Männern entlädt sich der Frust in Gewalt. Radikale Ideologien breiten sich aus, die ohnehin schwache Entwicklung kommt zum Erliegen. Das Bevölkerungswachstum bleibt jedoch hoch, denn erfahrungsgemäß bekommen die Menschen erst dann weniger Kinder, wenn es ihnen wirtschaftlich besser geht und der Bildungsstand steigt.

In Afrika dürfte sich die dortige Bevölkerungszahl bis 2050 verdoppeln. Südlich der Sahara haben schon heute nur rund 20 Prozent der potenziellen Arbeitskräfte einen fest entlohnten Job. Zwischen 2010 und 2020 drängen geschätzt noch einmal circa 120 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt – beziehungsweise suchen ihr Glück anderswo.

Entwicklungsökonomen empfehlen diesen Ländern meist den Aufbau einer Industrie, die zunächst mit der Herstellung einfacher Produkte Abertausende junge Menschen beschäftigt, um dann schrittweise auf höherwertige Güter und damit anspruchsvollere Jobs umzustellen. Auf diesem Weg haben sich einst die asiatischen Tigerstaaten entwickelt und nebenbei ihr Bevölkerungswachstum gebremst.

Dieser Weg bietet aber kaum eine realistische Perspektive für Afrika. Bislang hat der Kontinent wenig von der weltweiten Arbeitsteilung profitiert. Denn es mangelt ihm an Infrastruktur und vor allem an Qualifikationen: Fast ein Drittel aller afrikanischen Kinder schließt nicht einmal die Grundschule ab. In Asiens nächsten Tigern, in Vietnam, Kambodscha oder Bangladesch, warten weit besser Ausgebildete auf ihre Chance auf dem globalen Exportmarkt.

Afrika muss deshalb seinen eigenen Weg der Entwicklung finden und sollte dabei an zwei seiner größten Defizite ansetzen. Erstens kann kaum ein afrikanisches Land ausreichend Lebensmittel produzieren und muss sie stattdessen einführen; zweitens muss die Mehrheit dieser Staaten Energie importieren. Hohe Importe aber bedeuten ein hohes Handelsdefizit, Inflation und fehlende Mittel für den Aufbau einer Infrastruktur. Obendrein sind sie absurd: Afrika verfügt zwar über ein Viertel der weltweiten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche, trotzdem wachsen dort nur neun Prozent der weltweit erzeugten Agrargüter. Mehr als 200 Millionen Afrikaner leiden Hunger. Obwohl Afrika mit der ganzen Fülle erneuerbarer Energiequellen gesegnet ist, haben in den ländlichen Gebieten südlich der Sahara gerade einmal jeder Siebente einen Stromanschluss. Ohne Strom brennt kein Licht zum Lernen, läuft kein Computer und hilft keine Maschine beim Betrieb kleiner Unternehmen.

Entwicklungskonzepte für Afrika sollten sich deshalb viel mehr als bisher um die ländlichen Gebiete kümmern. Dort bekommen die Frauen etwa doppelt so viele Kinder wie in den Städten, und dort hätte eine Verbesserung der Lebenslage den größten Effekt auf das Bevölkerungswachstum – das überdies das Wachstum der Städte antreibt.

Bis heute leben die meisten Afrikaner auf dem Land als Selbstversorger oder Tagelöhner, deren Erträge weit unter den Möglichkeiten bleiben. Selbst wenn die Bauern Überschüsse produzieren, sind diese kaum markttauglich, weil die Mittel fehlen, die Rohprodukte zu veredeln. Notwendig wäre dafür – neben mehr Technik und Know-how – vor allem eine Stromversorgung, mit der sich Maschinen zum Trocknen oder Kühlen betreiben lassen, zur Herstellung von Konserven oder anderen marktfähigen Lebensmitteln. Denn damit kann man ein Vielfaches von dem verdienen, was der reine Anbau von Feldfrüchten einbringt.

Elektrizität ist nicht verfügbar, weil es zu wenige Großkraftwerke und so gut wie keine Stromnetze gibt, um die ländlichen Gebiete zu versorgen. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungsgeschwindigkeit der Energiewirtschaft würde es bis zum Jahr 2080 dauern, bis jeder Einwohner von Afrika südlich der Sahara Zugang zu Elektrizität hätte. Diese "große" Lösung – klassische Kraftwerke mit flächendeckenden Netzen wie in Europa – muss Afrika deshalb überspringen. Seine Zukunft liegt in vielen kleinen Lösungen. Dieses Überspringen technologischer Entwicklungsstufen hat in Afrika ein Vorbild: In Windeseile hat sich dort das mobile Telefonieren ausgebreitet, wohingegen es nie gelungen wäre, die Menschen auf den ganzen Kontinent an klassische leitungsgebundene Telefonnetze anzuschließen.

Die gleiche Chance bieten jetzt die regenerativen Energiequellen. Gerade auf dem Land, also dort, wo ein Stromanschluss den größten Entwicklungsschub bewirken könnte, lässt sich auf die Schnelle und günstig nur mit dezentralen Solar-, Biogas-, Wasser- oder Windkraftwerken Elektrizität produzieren und über Kleinstnetzwerke verteilen. Das Africa Progress Panel mahnt eine Verzehnfachung der Stromleistung in Afrika südlich der Sahara bis 2030 an, geht aber davon aus, dass dies nur möglich ist, wenn mindestens die Hälfte der zusätzlichen Energie regenerativ erzeugt wird.

Gerade bei der Verarbeitung von Agrargütern würde eine Stromversorgung Wunder bewirken, denn 80 Prozent des Energieverbrauchs bei der Lebensmittelproduktion fallen nach der Ernte an. Erstmals könnten viele Bauern davon profitieren, dass sie nicht nur Mais und Maniok ernten, sondern daraus in Kooperativen oder kleinen Unternehmen gewinnbringend Produkte für den Verbrauch in den Städten produzieren.

Bisher verfügen jedoch weder die Bauern noch die Kooperativen über die notwendigen Mittel für den Aufbau einer dezentralen Energieversorgung. Regenerative Kleinkraftwerke sind in Afrika die Ausnahme: In Nigeria beispielsweise produziert eine Schlachterei in der Provinz Bodija unter dem Slogan "cows to kilowatt" aus Schlachtabfällen Biogas für 5.400 Haushalte und nebenbei eine Stromleistung von einem Megawatt. In Kenia beheizt die größte Blumenfarm des Landes ihre Treibhäuser mit Erdwärme. Eine regenerative Stromversorgung in der Fläche ist aber noch in weiter Ferne.

Dass es auch flotter geht, zeigt Bangladesch: Dort werden seit 2002 Haushalte mit Solaranlagen ausgerüstet, gefördert von der Regierung und über Mikrokredite durch die internationale Gebergemeinschaft. Bisher sind so mehr als 13 Millionen Menschen erstmals zu einem Stromanschluss gekommen, und zwar ohne dafür den Umweg über die Verbrennung fossiler Energieträger gehen zu müssen. Um die Stromversorgung herum hat sich eine einheimische Industrie entwickelt, die 70.000 Menschen beschäftigt und einen Großteil der Herstellung und Wartung der Anlagen übernimmt.

Die Internationale Agentur für Erneuerbare Energien schätzt, dass bis 2030 weltweit bis zu 4,5 Millionen neue Jobs durch den Aufbau einer dezentralen Energieversorgung entstehen könnten. Diese wiederum könnte der Motor für weitere wirtschaftliche Aktivitäten sein und den Menschen auf dem Land neue Perspektiven bieten. Nur wenn Afrika an dieser Entwicklung teilhat, lassen sich die Lebensbedingungen vor Ort so weit verbessern, dass die Ursachen für Armut, politisches Chaos und Flucht zumindest abgemildert werden.

Die neue Studie "Jobs für Afrika – Wie Nahrungsmittelproduktion und erneuerbare Energien Entwicklung beschleunigen können" ist unter www.berlin-institut.org verfügbar

Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unter www.zeit.de/audio

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