Wie die DFB-Elf zu neuer Demut findet

  26 Dezember 2019    Gelesen: 948
Wie die DFB-Elf zu neuer Demut findet

Die Stimmung in der deutschen Fußballnationalmannschaft hat sich seit der WM 2018 grundlegend verändert. Die Großspurigkeit ist zugunsten einer Aufbaumentalität gewichen. Die DFB-Elf sieht sich nicht mehr als internationaler Fußballgigant, sondern als ambitioniertes Startup.

Vor der Weltmeisterschaft 2018 waren sich die Verantwortlichen und Führungsspieler der Nationalmannschaft noch sicher, dass Deutschland, das zum damaligen Zeitpunkt noch amtierender Weltmeister war, eine Titelverteidigung in Angriff nehmen könnte. Die selbst ernannte Favoritenrolle löste sich jedoch schnellstens in Luft auf. Die DFB-Auswahl schied erstmals in ihrer Geschichte in der Vorrunde aus.

Die Katerstimmung danach veränderte so einiges im Organismus Nationalmannschaft. Bundestrainer Joachim Löw musste zusammen mit den Verantwortlichen im Verband eine Entscheidung hinsichtlich seiner Zukunft treffen. Die Kontroverse um Mesut Özil bestimmte wochenlang die Schlagzeilen. Und neben Özil verabschiedeten sich einige andere langjährige Schlüsselspieler – oder besser gesagt: sie wurden von Löw verabschiedet. Das betraf Granden wie Mats Hummels, Jérôme Boateng, Sami Khedira und Thomas Müller.

Das Gesicht der Nationalmannschaft wandelte sich nicht nur personell, sondern auch taktisch. Löw wagte nach durchwachsenen Auftritten in den ersten Nach-WM-Monaten den Umbruch. Der Bundestrainer wusste, dass er etwas gegen die Katerstimmung unternehmen musste, und entschied sich für eine Anpassung des Spielstils hin zu mehr Konter- und Umschaltfußball.

Das Jahr der Grundsteinlegung

Mittlerweile ist dieser taktische Ansatz jedoch weniger radikal, als er noch im Herbst und Winter 2018 wirkte. Das letzte Jahr hat gezeigt, dass die Nationalmannschaft weiterhin auf Identitätssuche ist. Durchwachsene Leistungen, der kurzzeitige, später durch die Reform des Wettbewerbs nichtig gewordene Abstieg aus der Uefa Nations League und das schwindende Zuschauerinteresse in Deutschland hatten ihren Einfluss auf die Nationalmannschaft, die sich nun eben nicht mehr wie das Lieblingskind des deutschen Fußballs aufführen kann, sondern erst um die Gunst von Fachkritikern wie auch Fans werben muss.

Löw sagte kürzlich gegenüber dem "Sportbuzzer", die schwierige Phase der jüngeren Vergangenheit hätte "das Bewusstsein gestärkt und die Sinne wieder geschärft, dass wir es auf neuen Wegen versuchen müssen, andere Lösungen zu suchen, offen für Innovationen zu sein, auch unsere Spielweise anzupassen." Mittlerweile spürt Löw eine "Aufbruchstimmung" und "neuen Spirit" in der Nationalmannschaft. Das Jahr 2019 war aus seiner Sicht das Jahr der Grundsteinlegung für die Zukunft.

Das Ziel für den nächsten sportlichen Erfolg kann eigentlich nicht die Europameisterschaft im kommenden Sommer, sondern vielmehr die WM 2022 in Katar sein. Bis dahin sind es noch fast genau drei Jahre, weil die WM bekanntlich im Winter stattfindet. Drei Jahre, in denen sich Spieler wie Joshua Kimmich, Serge Gnabry und Leroy Sané in der absoluten Weltspitze fest etabliert haben sollten.

Geduld ist gefragt

Löw hat mittlerweile klargemacht, dass er sich bei zwei gleichwertigen Spielern "jetzt eher für denjenigen mit Perspektive" entscheiden würde. Es geht ihm nicht mehr nur um unmittelbare Wettbewerbsfähigkeit, sondern um langfristigen Erfolg. Beim DFB werden sie ihm den Rücken stärken und auf seine Kompetenz vertrauen. Aber manche im Verband und erst recht viele in der Öffentlichkeit könnten aufgrund von zu erwartenden Rückschlägen ungeduldig werden.

Auch andere große Fußballnationen versuchten in den vergangenen Jahren den Umbruch und sahen dann, wie die Cheftrainer in die Bredouille gerieten, weil die meisten doch nicht die Ruhe für ein Perspektivprojekt haben. Da unterscheidet sich der Nationalmannschafts- vom Klubfußball allenfalls marginal.

Offensive profitiert von jungen Wilden

Löw jedoch bleibt aktuell keine andere Wahl. Die einstigen Führungsspieler sind bis auf Toni Kroos und Manuel Neuer allesamt auf dem Abstellgleis – und nur im Fall von Hummels könnte der Bundestrainer noch einmal zurückrudern. Ansonsten hat er viele Rohdiamanten, die sich in nicht absehbarer Geschwindigkeit zu echten Führungskräften weiterentwickeln oder zumindest verlässliche Rollenspieler sein können.

An sich verfügt Deutschland gerade in der Offensive wieder über eine Gruppe an jungen Wilden: Timo Werner hat einen Sprung nach vorn gemacht und sich in Leipzig zum mitspielenden Mittelstürmer entwickelt. Gnabry ist eine wichtige Stütze der Bayern-Offensive. Kai Havertz ist das große Talent der neuen Generation. Und mit Marco Reus haben sie zudem einen mittlerweile 30-jährigen Veteranen, der schon so manche Fußballschlacht geschlagen hat.

Problematischer ist die Situation in der Defensive, wo Verletzungen und schwankende Leistungen Löw zuletzt zum Improvisieren zwangen. Aber auch hier ist das Potenzial bei Lukas Klostermann, Jonathan Tah oder Robin Koch erkennbar. Potenzial allein reicht nicht, aber Löw kann eben jene Perspektive nutzen, um die Öffentlichkeit und das Umfeld der DFB-Auswahl zu beruhigen. Der 59-Jährige hat sich als Kommunikator sichtlich weiterentwickelt. Löw sollte nun besser in der Lage sein, eine Durststrecke der Nationalmannschaft zu moderieren und etwaige Panik von außen bestmöglich abzuwehren.

Das Wie ist entscheidend

Intern hat der Bundestrainer wiederum den Vorteil, dass die Klostermanns und Werners vorm nächsten Turnier die eigene Mannschaft nicht großspurig zum Mitfavoriten ernennen werden. Die jungen Wilden haben noch Zeit und können eher akzeptieren, dass die Euro 2020 eine Art Ausbildungsturnier für sie sein wird. Natürlich geht eine deutsche Mannschaft nie ohne jegliche Ambitionen in ein solches Turnier, aber Rückschläge sind eingeplant.

Sollte die DFB-Elf zudem einen temporeicheren Fußball als bei der letzten WM spielen, bei der die deutsche Mannschaft auf lange Ballbesitzphasen ausgerichtet war, dann könnte ein Ausscheiden im Achtel- und Viertelfinale der jungen Auswahl eher verziehen werden. Wenn die deutsche Fußballöffentlichkeit etwas nicht mehr ausstehen kann, dann ist es lahmer Ballbesitzfußball und großspuriges Auftreten verpackt in Hochglanzwerbung.

Letzteres hat die Nationalmannschaft im Jahr 2019 bereits weitestgehend abgestellt, auch wenn sie natürlich die unauthentische Marketingmaschinerie des DFB nicht komplett abstellen kann. Ersteres sollte, so der Wunsch von Löw, künftig nicht mehr zu sehen sein. Es geht eben nicht immer nur um Titel und Trophäen, sondern manchmal einfach nur um Sympathien und den Zuspruch der Fans. Darum wird sich für die Nationalmannschaft das Jahr 2020 auch drehen.

Quelle: ntv.de


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