Im Nebel des Krieges

  10 Januar 2020    Gelesen: 731
Im Nebel des Krieges

Die Hinweise verdichten sich: Eine ukrainische Boeing 737, die in Teheran abstürzte, soll von einer iranischen Rakete abgeschossen worden sein. Die Katastrophe kompliziert die Irankrise.

Fast hätte Iman Ghaderpanah den Flieger verpasst. "Er steckte im Stau", erinnert sich Ramin Alaen an das letzte Telefonat mit seinem Schwager. Fünf Minuten vor dem Start habe er dann aber noch ein Foto geschickt mit den Worten: "Wir kommen bald."

Doch Flug PS752 von Teheran nach Kiew erreichte sein Ziel nie: Die ukrainische Boeing 737-800 stürzte am Rande der iranischen Haupstadt ab. Alle 176 Insassen starben, auch Ghaderpanah und seine Fau Parinaz. Die Kanadier iranischer Abstammung hatten die alte Heimat besucht und waren auf dem Rückweg nach Toronto.

Alaens eigene Frau lag in Toronto in Geburtswehen, als sie die Nachricht erreichte. Das Baby, ein Mädchen, tauften sie nach der verstorbenen Schwägerin: Parinaz. "Ihr Geist lebt in ihr weiter", sagte Alaens im kanadischen TV-Sender CBC unter Tränen.

Inzwischen verdichten sich Hinweise, dass der Jet von einer iranischen Luftabwehrrakete russischer Provenienz abgeschossen wurde - auf dem Höhepunkt der Konfrontation zwischen Teheran und Washington. Als erster bestätigte Kanadas Ministerpräsident Justin Trudeau entsprechende Medienberichte, unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse der USA und anderer Alliierter.
Eine Tragödie mit geopolitischen Folgen

Trudeau hat besonderes Interesse an Aufklärung: Unter den Opfern sind 63 Kanadier, viele mit doppelter, kanadisch-iranischer Staatsbürgerschaft. "Dies ist eine herzzerreißende Tragödie", sagte er.

Eine Tragödie mit geopolitischen Folgen. Sollte Teheran verantwortlich sein, dürfte das die Dynamik der Irankrise gewaltig verändern. Teheran riskiere damit jeden guten Willen, sagte der Raketenabwehrexperte Thomas Karako vom Center for Strategic and International Studies der "Washington Post": "Es wird seiner Fähigkeit schaden, sich als Leidtragender zu inszenieren.

Denn die menschliche Dimension überschattet auf einmal alles. "Dies waren Opfer des unerklärten Krieges der USA gegen Iran", sagte Kommentator Nicholas Kristof bei CNN über die Passagiere.

Zumal das Unglück an den Absturz von Flug MH17 über der Ukraine erinnert, der 2014 ebenfalls von einer Rakete russischer Bauart getroffen wurde. Moskau bestreitet bis heute jede Schuld.

Diesmal gaben sich alle betont vorsichtig. "Es könnte ein Versehen gewesen sein", sagte Trudeau. Die gleichen Worte wählte der britische Premier Boris Johnson, als er ähnliche "Informationen" über einen Abschuss zitierte. Unter den Toten sind drei Briten.

Selbst US-Präsident Donald Trump - der die aktuelle Irankrise mit der Tötung des Topgenerals Qasem Soleimani ausgelöst hatte - hielt sich zurück. "Ich habe einen Verdacht", sagte er. "Jemand auf der anderen Seite könnte einen Fehler gemacht haben."

Die Amerikaner wissen aber auch, dass sie gerade den Iranern da keine Vorwürfe machen können. 1988 hatte ein US-Lenkraketenkreuzer ebenfalls zur Zeit militärischer Spannungen einen iranischen Airbus mit 290 Zivilisten an Bord über dem Persischen Golf abgeschossen.

Iran hat die Beteuerungen der USA, man habe die Linienmaschine für einen Kampfjet gehalten, nie akzeptiert. "Erinnert euch an die Zahl 290", warnte Irans Staatschef Hassan Rouhani Trump noch am Montag vor einer Eskalation der Auseinandersetzungen.

Brennende Trümmer regneten vom Himmel

Zwei Tage später stürzte PS752 ab. Die Boeing hob um 6.12 Uhr Ortszeit ab, nach sechs Minuten verschwand sie von den Screens der Flugsicherung. Ein Video, das CNN und die "New York Times" veröffentlichten, zeigt nach deren Angaben, wie sie von einer mutmaßlichen Rakete getroffen wurde. Auf einem anderen Video ist zu sehen, wie brennende Trümmer vom Himmel regnen.

Das Unglück ereignete sich nur Stunden, nachdem Iran als Rache für den Tod Soleimanis mehrere Raketen auf von US-Soldaten mitgenutzte Stützpunkte im Irak abgefeuert hatte. Das führte sofort zu Spekulationen, dass auch PS752 unter Beschuss geraten sei.

"Ging die ukrainische Maschine im Nebel des Krieges verloren?", fragte "Time". Iranische Truppen hätten möglicherweise irrtümlich gedacht, "sie würden angegriffen", meldetet CNN am Donnerstag unter Berufung auf Pentagon-Kreise. "Das sind die Risiken, wenn sich zwei kriegerische Nationen an die Gurgel gehen", sagte der "New York Times"-Kolumnist Frank Bruni dem Sender.

Erste Angaben Teherans sprachen jedoch von "technischem Versagen". Berichte über einen Abschuss seien "völlig lächerlich", sagte Irans Militärsprecher Abolfazl Shekarchi.  Uno-Botschafter Majid Takht-Ravanchi war später verhaltener. Vor dem Sicherheitsrat sprach er den Familien der Opfer das Beileid aus: "Eine sorgfältige Untersuchung des Vorfalls ist im Gange."

Die ersten Hinweise auf einen Abschuss meldete "Newsweek", dem folgten schnell andere etablierte Medien. Alle schienen sich auf die gleichen Quellen zu beziehen, allen voran "hochrangige US-Beamte", die zwei russische Abwehrraketen für den Abschuss verantwortlich machten. Iran besitzt mehr als 80 dieser Waffen.

Neue, internationale Dimension der Irankrise

Die Katastrophe gibt der Irankrise eine ganz neue, internationale Dimension. In sozialen Netzwerken wurden sowohl Iran wie die USA gleichermaßen beschuldigt. "Glauben Sie, dass die USA für diese Tragödie verantwortlich sind?", wurde Trudeau von einem Reporter gefragt. "Es ist zu früh für Rückschlüsse", wand er sich.

"Ich hoffe, dass dieses Unglück wird nicht zu einem politischen Spielball", sagte Ramin Alaen und zitierte die Abschiedsworte seines Schwagers vor dem Abflug von PS752: "Betet für uns.”

spiegel


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