Wer glaubwürdig sein will, der schlägt, erstens, den Bogen zur eigenen Biografie. Angela Merkel ist eine Meisterin darin. Als beim Treffen der Weltelite in Davos die Bühne für eine gute Dreiviertelstunde ihr ganz allein gehört, verweist sie erst mal darauf, dass sie selbst vor 30 Jahren das Ende der DDR erlebt habe. Das habe sie geprägt. "Man kann in 30 Jahren viel schaffen, aber ich weiß, wie knapp die Zeit ist", sagt sie bedeutungsschwer – und ist schon bei dem Mega-Thema, mit dem sie in Davos punkten will: dem Klimawandel, natürlich. Und, so ihre Botschaft, auch hier ist die Zeit knapp. Deutschland und Europa hätten sich mit der Klimaneutralität 2050 eine Transformation von "gigantischem Ausmaß" vorgenommen. Am Ende gebe es keine Alternative: "Es ist eine Frage des Überlebens", so Merkel. " Wir sind zum Handeln aufgefordert."
Wie kaum ein anderer der großen Politiker, die dieser Tage im schweizerischen Davos große Reden halten, stellt Merkel sich mit ihrem Auftritt auf die Seite der weltweiten Klimaschutzbewegung und den Fridays for Future (FFF). Noch zwei Tage zuvor hat US-Präsident Donald Trump an derselben Stelle den nötigen Wandel eines ganzen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems komplett ignoriert. Die Bundeskanzlerin, die dem Nachhaltigkeitsgedanken entsprechend im selben Outfit auftritt wie schon ein Jahr zuvor, verwendet fast die Hälfte ihrer Redezeit darauf: Wie bekommen wir die Transformation hin? Wie stemmen wir Atom- und zeitgleich auch noch den Kohleausstieg (wie Merkel es in Deutschland versucht, seit sie im Zeichen von Fukushima die Energiewende ausrief)? Und wie bewältigen wir auch noch die Herausforderungen der digitalen Transformation? "Wir müssen zu völlig neuen Wirtschaftsformen kommen", ist Merkel überzeugt.
Weil es, zweitens, auch die Glaubwürdigkeit fördert, wenn man die Probleme offen anspricht, berichtet Merkel dann auch von den großen Rissen, die seit einigen Jahren durch Deutschland gehen: Die widerwillige Landbevölkerung gegen die begeisterten Städter, die den neuen Möglichkeiten der Mobilität so aufgeschlossen gegenüberstehen. Die Jungen, die drängen und ungeduldig sind, gegen die Alten, die beharren. Merkel – selbst 65 Jahre alt – solidarisiert sich klar mit der Jugend. "Wir Älteren müssen aufpassen, dass wir die Ungeduld der Jugend positiv aufnehmen", sagt sie.
Es ist eine Rede, die hier in Davos wohl vielen aus dem Herzen spricht. Der große Graben zwischen einer Greta Thunberg und einem Donald Trump, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, ist hier in den Schweizer Alpen abermals offensichtlich geworden: Hier die 17-jährige Aktivistin, die der Politik Versagen und Nichtstun vorwirft. Dort der US-Präsident, der die Nöte der Jugend ignoriert und den Klimawandel keines Wortes würdigt. Diese Sprachlosigkeit mache ihr Sorgen und müsse überwunden werden, mahnt Merkel an – und fasst damit in Worte, was wohl viele im Publikum ganz genauso empfinden.
Und doch zeigt sich just an der emotionalen Rede ein weit verbreiteter Widerspruch in der Klimadebatte, dem auch die Kanzlerin nicht entkommt, allen schönen Worten zum Trotz. Auch wenn sie das Menschheitsprojekt "Klimaneutralität" beschwört, bleibt sie die Lösungsvorschläge schuldig. Gut, dass hier in Davos kaum Raum für kritische Gegenfragen ist, denn die Bilanz der Klimakanzlerin, als die sie sich hier inszeniert, sieht für Deutschland traurig aus: Die CO2-Emissionen sind in ihrer Regierungszeit gestiegen, wiederholt trat Merkel in Brüssel auch als Lobbyistin der deutschen Autoindustrie auf, das Kohleausstiegsgesetz wartet seit einem Jahr auf die Verabschiedung.
Der Spagat von Merkel steht denn vielleicht auch Pate für das Weltwirtschaftsforum selbst: Abgeschieden in den verschneiten Bergen geben die Mächtigen aus Politik und Wirtschaft wohlwollende Bekundungen ab, was getan werden muss, um die Welt zu verbessern. Wenn es gut läuft, stellen sie gar in Aussicht, sich selbst zu engagieren. Ob das wirklich so kommt, wird aber kaum kontrolliert.
Ob die weltweite Klimaschutzbewegung mit Angela Merkel die richtige Fürsprecherin gefunden hat, muss Merkel in Deutschland und in Europa mit ihrer Regierungsarbeit erst noch beweisen. Viel Zeit hat sie nicht mehr dafür.
zeit.de
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