Mehr als 3000 Berliner, darunter viele Studenten, haben sich nach Aufrufen für den Zähl-Marathon gemeldet, freiwillig und ohne Bezahlung. Sie laufen zwischen 22.00 Uhr und 1.00 Uhr nachts in rund 600 Teams auf festgelegten Routen durch die Bezirke. Es gibt feste Regeln für das Ansprechen von Obdachlosen: nicht aufwecken, nicht duzen, nicht drängen. Keine Fotos, keine Posts, keine Namen, keine Presse.
"Das ist keine Obdachlosen-Safari", betont Stefan Strauß, Sprecher der Senatssozialverwaltung.
Seit Jahrzehnten gibt es für Berlin nur grobe Schätzungen über das Ausmaß von Obdachlosigkeit. Viele liegen zwischen 6000 und 10 000 Menschen. Im besten Fall erfahren die Zähler in der Nacht der Solidarität noch mehr: Alter, Herkunft, Familienstand oder die Dauer des Lebens auf der Straße. Das alles soll helfen, das Hilfesystem besser an den Bedarf anzupassen.
Das scheint dringend nötig. In Berlin, der mit 3,7 Millionen Einwohnern größten deutschen Stadt, bündeln sich soziale Schieflagen wie in einem Brennglas - oft früher als anderswo im Land. 1989 startete hier die Kältehilfe, damit Obdachlose im Winter nicht draußen erfrieren. Das war ein Vorbild für viele andere deutsche Städte.
Doch im neuen Jahrtausend begann die soziale Realität das Berliner Nothilfe-System zu überfordern. Denn Ursachen und das Bild von Obdachlosigkeit veränderten sich. Der harte Kern von Menschen auf der Straße bestand nicht länger aus deutschen Männern zwischen Mitte 30 und Mitte 55, die Trennungen, Arbeitslosigkeit, psychische Probleme oder Süchte aus der Bahn geworfen hatten. Viele Menschen ohne Bleibe kommen nun aus der EU, häufig aus Osteuropa.
Sie können sehr jung sein oder auch sehr alt. Manche suchen legal Arbeit und scheitern. Auch an korrupten Arbeitgebern in Deutschland, die sie weder versichern noch Mindestlöhne zahlen. Andere kommen, weil in ihrer Heimat kaum Hilfe existiert. Insgesamt gibt es nach den Beobachtungen der Berliner Sozialverbände und des Sozialsenats heute mehr Frauen auf der Straße, mehr chronisch Kranke und mehr Behinderte im Rollstuhl - und auch mehr Familien.
Krasse Gegensätze wie an der Rummelsburger Bucht, einem Ausläufer der Spree nahe der Szeneviertel Friedrichshain und Kreuzberg, sind nicht untypisch für die Hauptstadt. In den Townhäusern und Wohnblöcken leben oft junge Familien, die sich den Wasserblick leisten können. In der nahen eingezäunten Wagenburg haben sich Aussteiger eingerichtet, Deutsche, die in Bretterverschlägen zwischen meterhohen Müllbergen leben. Auf einem anderen Areal des Geländes leben Osteuropäer, die von Flaschensammeln und Hilfsjobs leben. Dazu kommen Romafamilien.
Einfach wird es hier wohl nicht werden, mit der Zählung in der Nacht der Solidarität. Eine Frau mit Rastafrisur kommt mit einer Axt in der Hand aus einer Bretterbude.
"Was guckt ihr hier rum? Ich laufe doch auch nicht durch euer Wohnzimmer. Haut ab", schnauzt sie Neugierige an.
In einer anderen Ecke stehen Männer neben kleinen Kuppelzelten. Einige stammen aus Polen und sprechen kaum Deutsch. Sie wollten vor allem ihre Ruhe und keinen Ärger, sagen sie. Wenn sie hier weg müssten, gingen sie eben woanders hin. "Hier ist gut, aber sonst kein Problem. Wir haben Zelte, wohnen überall", sagt einer von ihnen.
Dass Berlin nur einen kleinen Ausschnitt sozialer Verwerfungen zeigt, belegen die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in der Bilanz für 2018. 41 000 Menschen leben danach im Laufe eines Jahres ohne jede Unterkunft in Deutschland auf der Straße. Das Berliner Zähl-Projekt interessiert deshalb auch andere Städte, zum Beispiel Hamburg und München.
Sozialverbände haben lange kritisiert, dass die Berliner Politik die wachsende Obdachlosigkeit unterschiedlichster Gruppen mehr als ein Jahrzehnt einfach ausgegessen habe - bis sie nicht mehr zu übersehen war. Erst als sich mitten im Berliner Tiergarten Obdachlosencamps etablierten und die Kriminalität stieg, entfachte das 2017 eine große Debatte.
Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) versucht seitdem, das Ruder herumzureißen: Sie ließ die Zahl der Notübernachtungsplätze aufstocken, verlängerte die Kältehilfe, dockte mehr Unterkünfte für wohnungslose Familien an und organisierte stadtweite Konferenzen. Die Fördermittel für die Berliner Wohnungslosenhilfe hat sich zwischen 2017 und 2020 auf 8,5 Millionen Euro verdoppelt.
Die Zählung soll nun eine statistische Grundlage schaffen, um Obdachlosen das ganze Jahr über passgenauere Unterstützung anbieten zu können. Das könnte je nach Ergebnis vielleicht mehr Straßensozialarbeit bedeuten, mehr Dolmetscher und mehr Unterkünfte, die eine Klärung der individuellen Notlage erlauben - samt der Suche nach Perspektiven. Das wäre weit mehr als die bisherige Kälte-Nothilfe bieten kann. Da müssen Obdachlose meist nach dem Frühstück wieder gehen.
Ausmaß von Obdachlosigkeit
Seit Jahrzehnten gibt es für Berlin nur grobe Schätzungen über das Ausmaß von Obdachlosigkeit. Viele liegen zwischen 6000 und 10.000 Menschen. Die Zählung soll eine statistische Grundlage schaffen, um Obdachlosen das ganze Jahr über passgenauere Unterstützung anbieten zu können.
Bundesweit leben nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe für 2018 rund 41.000 Menschen ohne jede Unterkunft auf der Straße. Das Berliner Zähl-Projekt interessiert deshalb auch andere deutsche Städte, darunter Hamburg und München.
ai/dpa
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