Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz wurden etwa 1,1 Millionen Menschen umgebracht. Die große Mehrzahl von ihnen war jüdischer Herkunft. Aber es traf ebenso sowjetische Kriegsgefangene sowie Sinti und Roma und andere Menschen. „Das haben Menschen Menschen angetan!“, wird die polnische Schriftstellerin Zofia Nałkowska am Ende des Buches „Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers“ zitiert.
Das ist der Grundtenor dessen, was die Autorin und Historikerin Susanne Willems beschreibt. Ihr sei es auch darum gegangen, zu zeigen, wer der SS half und gar erst ermöglichte, Juden und andere Menschen zu vernichten. Das sagte sie im Gespräch mit Sputniknews. In ihrem 2015 erstmals veröffentlichten Buch beschreibt sie Planung, Ausführung und schließlich Entwicklung des Lagers. Sie stützt sich dabei auf bislang unveröffentlichte Dokumente vor allem in russischen Archiven.
„Was erklärlich ist, muss erklärt werden“
Die Historikerin hat sich jahrzehntelang mit der Geschichte des KZ beschäftigt und in der Gedenkstätte gearbeitet. Sie sei als 20-Jährige 1980 während einer Studienreise erstmals nach Polen und in die Gedenkstätte Auschwitz gekommen, berichtet sie.
„Die Geschichte hat mich wegen der Begegnung mit Überlebenden, den freundlichen, aber auch nachdenklich machenden Begegnungen mit Überlebenden nicht mehr losgelassen.“ Mit den Jahren habe sie den Eindruck gewonnen, die Geschichte dieses größten deutschen KZ müsse so geschrieben werden, dass dessen Entstehung erklärt wird, soweit das möglich ist.
„Es bleibt noch genug, was nicht erklärlich ist an dem Völkermord, für den Deutsche verantwortlich sind. Aber das, was erklärlich ist, muss erklärt werden.“ Ein solches Unterfangen sei immer vermessen, ist ihr klar. Ihr Buch fasse Forschungsergebnisse aus den Jahrzehnten zusammen, die das Museum in der Gedenkstätte Auschwitz veröffentlicht hat, ergänzt durch Ergebnisse der eigenen Arbeit und der historischen Forschung in BRD und DDR.
Handel zwischen SS und IG Farben
Willems verwies darauf, „dass Auschwitz zunächst als Konzentrationslager konzipiert war, um den polnischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung zu unterdrücken“. Daran anknüpfend sei es zum zentralen Deportationsort für die Massendeportationen der europäischen Juden ausgebaut worden. Ihr Buch benenne die Partner der SS genau, „indem es die Funktion des Lagers in diesem in das Deutsche Reich eingegliederten oberschlesischen Industriegebiet und dem darüberhinausgehenden Industriegebiet nachzeichnet.“
Größter Partner der SS sei bekanntermaßen die in der IG Farben zusammengeschlossene deutsche Chemieindustrie gewesen. Die habe bei Auschwitz in ein „gigantisches Kunststoffwerk“ für die Nachkriegszeit investieren wollen. Das Projekt sei genehmigt worden, weil zugleich kriegswichtige Produkte produziert wurden. Für diese Produktion habe die KZ-Leitung im Februar 1941 10.000 Häftlinge als Arbeitskräfte zugesagt. Das sei zu dem Zeitpunkt noch nicht möglich gewesen, so Willems, da die meisten KZ-Häftlinge im Lager selbst während der gesamten Zeit Ausbauarbeiten verrichten mussten.
„Die Zusage an einen der wichtigsten deutschen Konzerne, unterstützt vom Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, bedeutete, dass das KZ einen Grund hatte, zu expandieren, also immer mehr Häftling aufzunehmen. Das war schlicht ein Handel mit dem IG Farben-Konzern: Der Konzern stellte der SS für den Ausbau des später als Stammlager bekannten KZ-Teil das Baumaterial zur Verfügung bzw. trat Kontingente für dieses Material ab, kürzte geringfügig das eigene Bauprogramm für Werkswohnungen und dafür wurden Zehntausende Plätze mehr im KZ geschaffen.“
Lange Liste der Profiteure
Die Zusage von 10.000 Arbeitskräften sei erst ab Sommer 1944 erreicht worden. Infolge der Massendeportationen von Juden aus ganz Europa und nach der Errichtung eines firmeneigenen Außenlagers in Monowitz sei deren Zahl am Ende auf mehr als 11.000 gestiegen. Viele deutsche Unternehmen seien Partner der SS gewesen, vermittelt über das Rüstungsministerium unter Albert Speer ab Februar 1942, hob die Historikerin hervor.
„Wahrscheinlich wäre es leichter, große Konzerne zu benennen, die keine Produktionsstätten im oberschlesischen Industrierevier oder in der Umgebung des KZ Auschwitz hatten.“ Auch staatliche Betriebe wie Stromproduzenten seien beteiligt gewesen. „Dafür wurde die Häftlingszahl erhöht und arbeitsfähige Häftlinge nach Auschwitz deportiert.“
Es gebe eine direkte Verbindung „zwischen der Politik des Rüstungsministeriums unter Albert Speer und der Politik der SS in Auschwitz: Im September 1942 sagte das Ministerium der SS alle Kontingente an Baumaterial für das zweite Lager Birkenau zu, um dieses dauerhaft in einen Ort zu verwandeln, wo vier stationäre Gaskammern mit angeschlossenen Krematorien im Frühjahr 1943 in Betrieb gehen konnten.“
Damit wurde das Lager zum Ziel für die Massendeportationen der europäischen Juden, so Willems. Die hätten im März 1942 begonnen, erst aus der Slowakei und Westeuropa. Und zwar zuerst arbeitsfähige Frauen und Männer, wegen des Arbeitskräftebedarfs vor allem von IG Farben, betont sie.
Albert Speer als aktiv Beteiligter
Zu den eigenen im Buch dargestellten Erkenntnissen gehören nach ihren Worten vor allem die über die Rolle von Albert Speer. Der sei erst als Generalbauinspektor in Berlin an den Massendeportationen der Berliner Juden beteiligt gewesen, durch die von ihm verlangten Wohnungsräumungen. Als Rüstungsminister habe er dann auch die Interessen der Rüstungsindustrie umzusetzen gehabt.
Berliner Juden waren laut der Historikerin zu Zehntausenden in der Berliner Rüstungsindustrie zwangsbeschäftigt. Die Unternehmen hätten auf Ersatz der Juden nach deren Deportation bestanden.
„Speer wandelte diesen Interessenkonflikt, wo er beide Seiten zu vertreten hatte, in ein noch größeres Verbrechen, nämlich der Rüstungsindustrie zu sagen: Geht Ihr doch mit Eurer Produktion an die Konzentrationslager. So ist Siemens nach Ravensbrück gegangen, IG Farben war schon in Auschwitz, aber auch andere Unternehmen haben Produktionen in den KZ im Laufe des Jahres 1942 aufgenommen.“
Ökonomische Interessen bestimmend
Willems betonte, beim Blick auf ein solches, nicht vorstellbares Völkermordverbrechen sei die Versuchung verständlich, „den Grund für diesen kaum vorstellbaren Massenmord, wo immer Deutsche die Herrschaft hatten, in der rassistischen, ideologischen Verblendung zu suchen“. Die sei „aber allein nicht der Grund für diese Art von bürokratisch und arbeitsteilig vom deutschen Staat umgesetztes Verbrechen.“
Deshalb versuche sie mit ihrem Buch die mit der menschenverachtenden rassistischen Ideologie gekoppelten ökonomischen Interessen zu zeigen. Letztere seien „in der Regel die bestimmenden und stärkeren“. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen sei es nötig, darauf hinzuweisen, „wo die Gefahren in einer Gesellschaft weiterhin sind, wenn ökonomische und rassistische Interessen ineinandergreifen.“
Die Berliner Historikerin stützt sich unter anderem auf bisher unbekannte Dokumente in Moskauer Archiven, wo Akten der Zentralbauleitung Auschwitz liegen. Diese seien wahrscheinlich bis heute von niemandem vollständig gelesen worden. „Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz können wir uns auch vorstellen als eine Baustelle, die immer weiterentwickelt wurde. Folglich gab es eine Bauleitung.“
„Leben wie in einem Schlachthaus“
Diese Dokumente belegen nach ihren Worten die Verbindung zwischen Rüstungsministerium und der SS, die selbst von einem „Sonderprogramm Professor Speer“ gesprochen habe. Dazu gehört, verwahrt im Militärarchiv in Prag, der Bauplan für den Ausbau des Lagers, in dem die vier Krematorien mit Gaskammern eingezeichnet sind, ebenso ein dritter Birkenauer Lagerabschnitt.
Sie zeigen laut Willems zudem die veränderte Funktion von Auschwitz nach der Westverlagerung der Industrie und der Gefangenen ab Sommer 1944. „In Auschwitz ist seit September 1941 massenhaft gemordet worden“. Stellte sie im Gespräch klar. „Das Lager wurde nicht erst seit 1942 ein Ort der Massenvernichtung.“ Überlebende haben die Zeit des Winters 1941/42 im Stammlager als Leben wie in einem Schlachthaus beschrieben.
Die ersten Opfer seien tausende sowjetische Kriegsgefangene gewesen, von der Wehrmacht zu Zehntausenden an die SS übergeben, erinnerte sie. Hunderte sowjetische Soldaten seien mit invaliden polnischen Gefangenen als erste mit dem Gas „Zyklon B“ umgebracht worden, im Keller von Block 10, dem Gefängnis des Stammlagers. „Von denen lebten im März 1942 keine 1.000 mehr. Sie wurden auch bei Arbeitseinsätzen brutal erschlagen oder sind verhungert.“
Arbeitskräftelieferant und Vernichtungsmaschine
Auschwitz wird im öffentlichen Bewusstsein oftmals nur als Ort der Judenvernichtung gesehen, während andere Opfer im Gedenken oft in Vergessenheit geraten. Für die Historikerin liegt das daran, dass Auschwitz in den letzten Kriegsjahren Ziel der Massendeportationen der Juden war. In dem halben Jahr vor der Befreiung am 27. Januar 1945 seien jüdische Gefangene, die Überlebenden der Ghettos in Polen und aus Ungarn deportierte Juden, ins Innere des Reiches gebracht worden. Deshalb gebe es aus Auschwitz mehr Überlebende Juden, in deren Erinnerung sei „Auschwitz der Ort des Mordes an ihren Verwandten“ geblieben.
„Die Funktion des Lagers war die eines Arbeitskräftelieferanten. Es wurden alle deportiert, vom Säugling bis zum Greis. An der Rampe von Auschwitz-Birkenau wurde selektiert, wer sofort vernichtet wird und wer ins Lager eingewiesen wird.“
In Auschwitz seien mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet worden, davon mindestens 900.000 deportierte und sofort nach der Ankunft ermordete Juden. „Das ist gegenüber den anderen Gruppen der auch einer brutalen Vernichtungspolitik zum Opfer gefallenen Menschen die größte Zahl. Und es gibt rund um den Globus die dichteste Erinnerung an gerade diesen Ort.“
Historikerin Willems versucht, im Buch das Unfassbare fassbar zu beschreiben, indem sie immer wieder die Perspektive wechselt. Neben der nüchternen Beschreibung der Bedingungen für die Entwicklung des Lagers werden Erinnerungen der Überlebenden wiedergegeben. Diese erzählen von den Verhältnissen, aber auch vom Widerstand von Gefangenen in Auschwitz-Birkenau gegen die SS-Herrschaft.
„Die Überlebenden hatten nie eine Wahl“
Mit Blick auf die Gegenwart sagte die Autorin: „Bei denen, die das Verbrechen leugnen, kann man nur auf eine glückliche Wendung hoffen, dass sie die Chance haben, das einzusehen. Da hilft Aufklärung am wenigsten.“ Mit Menschen hierzulande, die sich einen „Schlussstrich“ unter das Gedenken wünschen, weil sie genug gehört hätten, „würde ich immer gern das Gespräch suchen“.
Sie meint, es könne Ausdruck eines Gefühls von „etwas wie Ohnmacht und Überforderung“ sein, dass Menschen sagen, sie wollen nichts mehr von der Vergangenheit hören. Es sei ihnen vielleicht nicht möglich, „die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen in die Gegenwart zu übersetzen“, vermutet die Historikerin.
„Es gibt eine Gruppe von Menschen, die nie die Wahl hatte, zu sagen: Ich habe genug davon und will das nicht mehr hören! Das sind die Überlebenden, für die die Erinnerung im Lauf der Jahrzehnte im hohen Alter nicht mehr zu verdrängen war, so sehr sie das als junge Menschen nach der Befreiung vielleicht noch konnten.“ Sie seien in den 1990er Jahren an das Verbrechen und das Schicksal ihrer Angehörigen schmerzlich erinnert worden, „als die Gewalttätigkeit gegen irgendwie andere Menschen in Deutschland auf der Straße wieder vorkam und zunahm“. Die Überlebenden seien damals aufgeschreckt worden durch eine aufkeimende Gewalt „gegen alles, was anders oder als nicht nur deutsch erscheint“.
Dr. Susanne Willems, 1959 geboren, studierte in Freiburg und Bochum Jura und Geschichte, war Lehrbeauftragte und Leiterin der Informations- und Beratungsstelle für NS-Verfolgte in Köln. Sie lehrte an Universitäten in Russland und Deutschland und gehörte von 1994 bis 2003 dem Vorstand der Stiftung für die Internationale Jugendbegegnungsstätte Auschwitz an. Für ihre Aufklärungsarbeit wurde sie mit dem Kavalierskreuz der Republik Polen geehrt.
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