In der Falle

  10 Februar 2020    Gelesen: 696
 In der Falle

In Syrien fliehen Hunderttausende aus der letzten Bastion der Rebellen an die Grenze zur Türkei. Aber die will sie nicht aufnehmen.

Das letzte Bild, das Hussein al Abdallah von seiner Heimatstadt ins Internet stellte, ist das einer Geisterstadt. Das war am 31. Januar, die Aufnahme zeigt eine menschenleere Straße in Saraqib, die Häuser sind verrammelt. Die Truppen von Baschar al Assad rückten auf die Kleinstadt in der syrischen Provinz Idlib vor. Wie Tausende andere ergriff Hussein die Flucht nach Norden.

„Es waren Momente, die sich wie Jahre anfühlten“, schreibt der junge Mann in einer Textnachricht. „Kinder in Panik, Mütter, die vor Angst zitterten, weil sie nicht wussten, ob sie die Kinder beschützen können.“ Nur das Nötigste hätten die Leute mitnehmen können, berichtet Hussein. „Schlimmer als das Leid ist der Schmerz für die Seele“, schreibt er. Man breche „ins Nirgendwo und Ungewisse auf“.

Hunderttausende sind in den vergangenen Wochen und Monaten im Nordwesten Syriens vor den Streitkräften des syrischen Regimes geflohen. Das „International Rescue Committee“ spricht von mehr als 900.000 seit April. Es könnten noch 800.000 hinzukommen, warnt die Hilfsorganisation. Die Provinz Idlib, eine letzte Bastion des Aufstands gegen Assad, gerät zurück unter dessen Kontrolle.

Syrische und russische Bomber werfen ihre tödliche Ladung auf Märkte und Schulen ab. Und auf Kliniken, von denen viele von der Bundesregierung unterstützt werden. Russische Drohnen kreisen am Himmel, wie Rebellenkämpfer und Zivilisten berichten. Am Boden hinterlassen Assads Truppen verwüstete Dörfer und rauchende Ruinen. Iran hat getreue Milizionäre an ihrer Seite in den Kampf geschickt. Die Rebellen können die syrisch-russisch-iranische Streitmacht nicht stoppen.

So erreichen uns Bilder einer neuen Massenflucht: Endlos erscheinende Konvois vollgepackter Pritschenwagen, Kleinlaster oder Traktoren drängen sich in den Straßen. Es ist eine beschwerliche Reise durch gefährliches Terrain. Helfer aus dem Kampfgebiet berichten von überfüllten Häusern und umherirrenden Menschen, die in der Winterkälte im Freien übernachten oder manchmal, kaum angekommen, schon wieder fliehen müssen. Zivilschützer, die schon alle Hände voll damit zu tun haben, nach den Luftangriffen in den Trümmern nach Überlebenden und Toten zu graben, tun, was sie können, um die Fliehenden zu unterstützen. „Wir helfen den Zivilisten, Fahrzeuge zu organisieren“, schreibt einer.

Etwa drei Millionen Zivilisten leben in Idlib. Sie sind Geiseln radikaler islamistischer Milizen. Die Provinz wird beherrscht von der Allianz „Hayat Tahrir al Scham“ (HTS), die einmal Nusra-Front hieß und sich im Dunstkreis von Al Qaida bewegte. Die radikalen Islamisten, die über Jahre mit Entführungen und Morden Angst und Schrecken verbreiteten, hatten vor gut einem Jahr offiziell die Macht ergriffen. Sie stoppten eine Offensive gegen andere Rebellengruppen um den Preis, dass sich Idlib einer „Regierung der Errettung“ von ihren Gnaden unterstellte.

In einigen Städten, die im Zuge von Assads Idlib-Feldzug verwüstet wurden, gingen die Leute bis zuletzt gegen Dschihadisten und den Diktator auf die Straße. Für das Regime und seine Alliierten sind die Leute in Idlib alle „Terroristen“. Die Hälfte von ihnen stammt nicht aus der Provinz, sondern aus Orten wie Aleppo, Homs oder den Vorstädten von Damaskus. Sie wurden nach Idlib verbracht, als Assads Truppen in ihren Heimatorten eine Kapitulation erzwangen und sie vor die Wahl stellten: Deportation nach Idlib oder Tod. Jetzt gibt es keinen Ort mehr, an den man sie noch schaffen kann. Jetzt sitzen sie – wie alle anderen auch – in der Falle. Jetzt droht der Tod in Idlib.

Viele durchlebten über Jahre ein grausames Wechselbad von Horror und Hoffnung. Assads Rückeroberung von Idlib verlief scheibchenweise und nach einem Muster, das sich wiederholte: Russische und syrische Bomber entfesseln einen Feuersturm, attackieren zivile Infrastruktur. Assads Truppen rücken am Boden vor. Der Westen protestiert, unternimmt aber in der Regel nichts. Dann wird von den Schutzmächten der syrischen Konfliktparteien eine „Deeskalationszone“ oder ein Waffenstillstand vereinbart. Die Menschen erobern den Alltag zurück, flicken ihre demolierten Häuser, eröffnen Geschäfte anstatt Geld für die nächste Flucht zu horten.

Doch Zeiten des Aufatmens sind in der Regel schnell vorbei. Jedes Mal wird der Rückzugsraum kleiner. Inzwischen drängen sich entlang der türkisch-syrischen Grenze die Lager der Binnenvertriebenen. Auch das türkische Protektorat im Grenzgebiet östlich von Aleppo ist überfüllt. Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bereitet das Sorge, denn er will auf keinen Fall weitere Flüchtlinge aufnehmen. Schon jetzt leben etwa 3,6 Millionen Syrer in seinem Land.

Das könnte paradoxerweise für die Menschen in Idlib die letzte Hoffnung sein. Ankara unterstützt Rebellengruppen jenseits der Grenze, beschränkt sich aber für gewöhnlich darauf, den syrischen „Brüdern“ Waffen zu liefern. Seit vergangener Woche greift aber auch das türkische Militär in die Schlacht um Idlib ein.

Mehrere Militärkonvois mit schweren Waffen sind in den Nordwesten Syriens vorgedrungen. Das türkische Militär unterhält dort schon länger etwa ein Dutzend gut befestigte Lager, die „Beobachtungsposten“ genannt werden. Sie sind Teil einer russisch-türkischen Übereinkunft von 2018, mit der die Gewalt eingedämmt werden sollte. Russland versprach, seinen Schützling Assad zu mäßigen, die Türkei verpflichtete sich, gegen die HTS-Dschihadisten vorzugehen. Beide hielten ihre Zusagen nicht ein.

So kann von Gewalteindämmung längst nicht mehr die Rede sein – im Gegenteil. Die Konfrontation hat sich dramatisch verschärft, seit vor etwa einer Woche türkische Soldaten durch syrische Artillerie getötet wurden. Erdogan befahl das Bombardement Dutzender Ziele. Und er hat dem Regime ein Ultimatum gestellt: Assad soll seine Truppen bis Ende des Monats wieder hinter die türkischen Posten zurückzuziehen. Andernfalls werde die türkische Armee sie selbst zurückdrängen.

Schon zuvor hatte er den russischen Präsidenten Wladimir Putin gewarnt, ihm besser nicht in die Quere zu kommen. Die türkische Feuerkraft dürfte eigentlich ausreichen, Assads Streitmacht zurückzudrängen. Aber es herrschen Zweifel daran, dass Erdogan eine militärische Konfrontation mit Putin riskiert.

Die beiden Machthaber sind schon in der Vergangenheit über syrische Leichen gegangen, ohne dass sich ihr Verhältnis dauerhaft getrübt hätte. Und bei allem Säbelrasseln verhandeln die Diplomaten Moskaus und Ankaras weiter über ein neues Arrangement. Assad war denn auch trotz türkischer Militärpräsenz in der Umgebung in Saraqib eingerückt. Dabei ist die Stadt strategisch bedeutend. Denn hier treffen sich zwei Schnellstraßen, die Aleppo mit den Küstenregionen und der Hauptstadt Damaskus verbinden.

Unter westlichen Diplomaten gibt es die leise Hoffnung, die Offensive Assads könnte – zumindest zwischenzeitlich – zum Halten kommen, sobald diese Verkehrsverbindungen wieder unter der Kontrolle des Regimes sind. Es kursieren Szenarien, die Idlib zu einem künftigen syrischen Gazastreifen erklären – ein übervölkerter Landstrich, beherrscht von Islamisten. Aber das alles ist bloß Theorie.

Am Freitag wurden aus Hubschraubern des Regimes die berüchtigten Fassbomben auf die Provinzhauptstadt Idlibs abgeworfen. Zivilschutzfunktionär Raaed Saleh schrieb, Hunderttausende in der Stadt und ihrer Umgebung rüsteten sich zur Flucht.

faz.net


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