Hilft Social Media bei Essstörungen?

  10 Februar 2020    Gelesen: 558
Hilft Social Media bei Essstörungen?

Im Internet findet so ziemlich jeder eine Gruppe, der er sich zugehörig fühlt, eine sogenannte Peer-Group. Auch zu Essstörungen gibt es in den sozialen Medien unzählige Beiträge Betroffener. Ist das hilfreich - oder eher gefährlich?

Avocadotoast, Sushi - Trinknahrung? Wer das erste Mal auf Isabelles Profil auf Instagram landet, wähnt sich vielleicht auf einem Foodblog. Die Beschreibung sorgt für Klarheit: "Unistudentin, gebe mein Bestes, meine Magersucht zu überwinden", steht dort auf Englisch. Isabelle* ist 24 Jahre alt und hat eine Essstörung. "Hier kann ich meine Geschichte erzählen", sagt Isabelle über ihr Profil.

Isabelles Geschichte und die ihrer Essstörung ist eine mit Höhen und Tiefen. Auf dem Account "lifeof.isi" gibt sie täglich Updates aus ihrem Leben zwischen Vollzeitstudium und Essstörung: Dass es ihr leichter fällt, mit hochkalorischer Trinknahrung als mit warmen Mahlzeiten gegen ihr Untergewicht zu kämpfen, wie es bei der Therapie läuft oder dass sie nachts der Hunger nicht schlafen lässt.

Ende 2018 wurde Isabelle mehrmals ohnmächtig und kam ins Krankenhaus. Ihre Follower nahm sie mit. Viele von ihnen haben selbst eine Essstörung. Mit ihnen tauscht Isabelle Tipps aus, sie spenden sich gegenseitig Mitgefühl. "Eine große unkontrollierbare Selbsthilfegruppe" nennt sie ihren Account deshalb.

Content zum Umgang mit Essstörungen nehme in den sozialen Medien beständig zu, sagt Silke Naab, Chefärztin der Jugendabteilung der Schön Klinik Roseneck. Sie sieht Vor- und Nachteile in den Plattformen: Instagrammer wie Isabelle dienten einerseits als Identifikationsfigur. Zu sehen, dass Betroffene trotz der Rückschläge weiter gegen die Krankheit kämpften, könne sehr motivierend sein.

Aber Naab warnt auch: Sobald die Essstörung verherrlicht wird, sollten Follower unbedingt Abstand von dem Profil nehmen. Gerade Menschen mit Unsicherheiten und mangelndem Selbstvertrauen seien dafür besonders anfällig.


Die Essstörung verherrlichen - genau das passiert in Pro-Ana- oder Pro-Mia-Foren. "Da wird die Krankheit zum Lifestyle", sagt Silja Vocks, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen und Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Osnabrück. Pro-Ana ist die Kurzform für Pro Anorexie, also Magersucht, Pro-Mia steht für Pro Bulimie.

Wie gefährlich Pro-Ana-Gruppen sind, weiß Isabelle aus eigener Erfahrung. Mit 17 sei sie über eine solche Gruppe bei einem Messenger-Dienst "so richtig in die Essstörung gerutscht", sagt die mittlerweile 24-Jährige. Jede Woche 500 Gramm abnehmen war das Ziel.

Unter den Mitgliedern der Gruppe herrschte harte Konkurrenz: In Rankings wurden Gewicht und Größe verglichen. Der oder die Magerste gewinnt. Jede Woche müssen die Gruppenmitglieder Fotos von sich in Unterwäsche posten, um ihren "Fortschritt" zu dokumentieren. Isabelle nimmt ab und geht irgendwann immer mit der Angst ins Bett, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Dann habe sie sich eingestanden, dass es so nicht weitergehen kann.

Meist junge Frauen betroffen

Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) haben drei bis fünf Prozent der Menschen in Deutschland eine Essstörung. Darunter fallen Magersucht, Bulimie und Binge-Eating. Dabei haben die Betroffenen ähnlich wie bei der Bulimie Essanfälle, übergeben sich aber danach nicht. Häufig würde die Erkrankung aber als eine Mischform auftreten.

Etwa ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen zeigten Symptome einer Essstörung. Männer seien deutlich seltener betroffen als Frauen, so die BZgA. Isabelle weiß, dass sie ihren rund 1200 Followern auf ihrem Profil keine Anleitung zur Heilung einer Essstörung gibt: "Ich bin ja selbst noch dabei, meinen endgültigen Weg aus der Krankheit zu finden".

Rückfälle nicht ausgeschlossen

Obwohl Isabelle seit Jahren gegen die Krankheit kämpft und über längere Phasen nicht untergewichtig war, hat sie immer wieder Rückfälle erlebt - wie vor einem Jahr. Der Rückfall hält bis heute an. Instagram gebe ihr dann Kraft: Als Isabelle über Weihnachten nach langer Zeit wieder warme Mahlzeiten zu sich nahm, lagerte sich Wasser im ganzen Körper ein. Ihre Follower gaben Ratschläge.

Hier treffe sie auf Menschen, die eine ähnliche Geschichte haben und sie "besser verstehen" als Menschen ohne Essstörung, sagt Isabelle. Den Followern erzählt sie mehr als ihren Freunden. Mit denen wolle sie nicht den ganzen Tag lang über ihre Essstörung reden, sagt die Studentin – auch aus Angst, ihnen auf den Geist zu gehen oder sie zu überfordern.

Auch wenn der Content für Follower durchaus hilfreich sein kann - insbesondere Betroffenen, die noch tief in der Krankheit steckten, rät Naab davon ab, ihre Geschichte im Netz zu teilen. "Es ist ein relativ anonymer Raum in dem sie sehr persönliche Informationen teilen, ohne zu wissen, wie andere diese Informationen weiter verwenden."

Isabelle hat das am eigenen Leib erfahren. Ihren Account hat sie seit etwa fünf Jahren und ihn währenddessen mehrmals gelöscht. Das letzte Mal vor rund zwei Jahren. Damals folgten ihr 9000 Menschen, sie war in einer stabilen Phase, als die Hass-Nachrichten kamen. Follower erkannten ihr die Krankheit ab, weil sie nicht dünn genug sei, beschimpften sie und warfen ihr vor, "wirklich kranken Menschen" den Platz in einer Klinik wegzunehmen.

Instagram darf nicht Parallelwelt sein

Diese Zeiten sind vorbei, sagt Isabelle. Sie hat einen neuen Account und nun größtenteils Follower, die ihr beistehen. Unter Fotos von Mozzarella-Brötchen und Thai Currys schreiben sie einfühlsame Texte. "Klar gibt es auch die einen oder anderen negativen Kommentare, aber man kann es nie allen recht machen. Das habe ich mittlerweile gelernt."

Menschen mit Anorexia nervosa, Magersucht, seien häufig sozial isoliert und fänden in den sozialen Medien das ersehnte Echo, sagt Silja Vocks. Damit sei das Problem aber nicht gelöst, warnt Naab: "Es ist nicht damit getan, dass ich meine Sorgen und Ängste im Netz teile, sondern diese Erfahrung muss ich auch im realen Leben machen. Schwierig wird es immer dann, wenn es eine Parallelwelt gibt." Die Verbindung mit anderen über Instagram könne aber ein guter erster Schritt sein, sagt die Ärztin.

Gesprächsangebote können helfen

Menschen, die bei einem Angehörigen etwa Symptome einer Essstörung feststellen, rät Naab, das Gespräch zu suchen. Das Thema sei bei Betroffenen aber häufig schambesetzt. Darum könne das Angebot, mit einer anderen Vertrauensperson oder einem Therapeuten zu sprechen, häufig weiterhelfen. Eltern sollten sich informieren, welche Medien ihre Kinder nutzen. Auch hier könne ein offenes Gespräch helfen.

Isabelle hat fast alle ihre Freundinnen und Freunde auf Instagram blockiert - unter anderem, weil sie ihnen keine "zu großen Sorgen" machen will. Auf Instagram sei der Austausch ungezwungener. "Ich spreche ja nicht direkt eine Person an, wie es im Kontakt mit einer Freundin wäre." Die Follower, die sich damit beschäftigen wollen, tun es. "Und wenn nicht, dann nicht." Dass soziale Medien kein Therapie-Ersatz sind, weiß aber auch Isabelle: "Der Heilungsprozess findet nicht auf Instagram statt."

ntv


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