Ein Anruf riss Stefania Maurizi spätnachts aus dem Schlaf. "Sie haben eine Stunde Zeit, schalten Sie Ihren Computer ein und laden Sie die Datei herunter, bevor wir sie wieder löschen", sagte der Anrufer, der sich als Mitglied von Wikileaks vorstellte. Es war August 2009: Die Plattform hatte noch keinen großen Bekanntheitsgrad, die Journalistin der italienischen Tageszeitung "La Repubblica" entschied sich dennoch, die ungewöhnliche Anweisung auszuführen. Und geriet dadurch an einen Audiomitschnitt aus Neapel, der zeigte, dass auch Italiens Geheimdienst bei der dortigen Müllkrise mitmischte.
Wenige Monate später – im April 2010 – sorgte die Veröffentlichung einer weiteren Aufzeichnung durch Wikileaks dann weltweit für Entrüstung: "Collateral Murder". Das US-Militärvideo vom 12. Juni 2007 zeigt den US-Kampfhubschrauber Crazy Horse über den Straßen von Bagdad. Im Fadenkreuz der Bordwaffen sind mehrere Personen zu sehen, die den Hubschrauber gar nicht bemerken. Man hört den Sprechfunk, in dem der Pilot und der Bordschütze sie als feindliche Kämpfer einstufen und bei ihren Vorgesetzten auf die Erlaubnis zum Angriff drängen. Dann eröffnen sie das Feuer. Auch die beiden Fahrer eines Kleintransporters, die einem Angeschossenen helfen wollen, werden getötet. Insgesamt werden zwölf Personen erschossen, darunter zwei irakische Reuters-Journalisten. Zwei Kinder werden schwer verletzt. Die USA hatten den Vorfall zuvor als Notwehrsituation dargestellt – fälschlicherweise, wie das Video zeigt. Es handelt sich nach Expertenmeinung wohl eher um ein Kriegsverbrechen.
Drohende Auslieferung
Mit dem Beginn der Anhörungen zur Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange am Montag in London schließt sich gewissermaßen ein Kreis, der vor knapp einem Jahrzehnt mit "Collateral Murder" begann: Kurz nach Veröffentlichung des Videos und etlicher US-Dateien über den Krieg in Afghanistan und im Irak verlor Assange seine Freiheit. Denn in Schweden wurden Ermittlungen wegen Vorwürfen der sexuellen Belästigung und Vergewaltigung gegen ihn eingeleitet. Er bestritt die Anschuldigungen. Weil er seine Auslieferung in die USA befürchtete, flüchtete Assange nach London und 2012 in die Botschaft Ecuadors. Vor rund einem Jahr entzogen ihm die ecuadorianischen Behörden dann seinen Asylstatus, seither ist Assange wegen Verstoßes gegen die Kautionsauflagen in London in Haft. Am Tag seiner Festnahme – dem 11. April 2019 – veröffentlichte das US-Verteidigungsministerium umgehend eine Anklageschrift und suchte wenig später um Assanges Auslieferung an.
Das Video "Collateral Murder" hatte zwar die Whistleblowerin Chelsea Manning beschafft. Die USA behaupten aber, Assange habe einen Spionageakt begangen, indem er sie dazu angestiftet habe. So lautet einer der 17 weiteren US-Anklagepunkte, die dann im Mai 2019 bekannt wurden und denen Assange ebenfalls widerspricht: Er sei nur Herausgeber gewesen. Bei einer Verurteilung in den USA drohen ihm bis zu 175 Jahre Haft.
Die Medien wussten es vorher
Bei den Anhörungen in London geht es nun darum, ob die Bedingungen des Auslieferungsabkommens zwischen den USA und Großbritannien erfüllt sind. Im Gerichtsaal werden bis Freitag die Argumente beider Seiten vorgetragen. Erst im Mai wird nach einer dreiwöchigen Fortsetzung der Anhörungen eine Entscheidung gefällt.
Die dafür zuständige Behörde ist der britische Crown Prosecution Service (CPS) – jene Institution, gegen die der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, jüngst schwere Vorwürfe erhoben hat: Der CPS habe die schwedische Staatsanwaltschaft lange davon abgehalten, das Verfahren gegen Assange einzustellen. Über Schweden brachte Melzer ans Licht, dass dort eine Polizistin angewiesen worden war, die Aussage einer Frau nachträglich umzuschreiben. Und dass Medien bereits vom Vorwurf der "Doppelvergewaltigung" berichtet hatten, einen Tag bevor die zweite Frau ihre Aussage machte. In beiden Fällen geht es offenbar um "Stealthing", Sex ohne Kondom gegen den Willen der Frau. In Schweden gilt ein solches Delikt als Vergewaltigung, in Österreich wahrscheinlich als Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung.
derstandard.de
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