Was Erdogan im Flüchtlingsstreit erreichen will - und kann

  10 März 2020    Gelesen: 694
Was Erdogan im Flüchtlingsstreit erreichen will - und kann

Mehr Geld für syrische Flüchtlinge, Visafreiheit für türkische Bürger und Unterstützung im syrischen Bürgerkrieg - die Wunschliste der Türkei an EU und Nato ist lang. Doch die sind nicht bereit, sich erpressen zu lassen.

Aus Brüsseler Sicht ist klar, was der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will. EU-Ratspräsident Charles Michel war am vergangenen Mittwoch in Ankara. Nach allem, was man hört, war es eine robuste Unterhaltung - aber auch eine, die den Weg ebnete für Erdogans Gegenbesuch am Montagabend in Brüssel. Erdogans Wunschliste ist lang, wenn er zunächst Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und dann die EU-Spitzen trifft.

1.  Geld
Den türkischen Präsidenten nervt, dass die Hilfsgelder der EU im Rahmen des Flüchtlingspakts nicht in den türkischen Haushalt fließen, sondern direkt für von der EU mit ausgesuchte Hilfsprojekte ausgegeben werden. Zudem zahlt die EU erst, wenn ein Projekt fertig, also etwa ein Krankenhaus gebaut ist. Obwohl die kompletten sechs Milliarden Euro bereits für konkrete Projekte verplant sind, sind erst 3,2 Milliarden Euro geflossen. Die letzten Zahlungen, etwa für den Bau großer Kläranlagen für Städte, die vom Flüchtlingszustrom besonders betroffen sind, werden erst 2024 fällig.

Klar ist aber auch, dass Erdogan am Montagabend noch keine Zusagen für neues Geld bekommen wird. Es gibt derzeit unter den EU-Mitgliedern keine Einigkeit über einen solchen Schritt. Völlig offen ist derzeit auch, ob sich dies bis zum EU-Gipfel Ende März ändert - und eine Anschlussvereinbarung für den Türkei-Deal gefunden werden kann.
Die EU-Kommission hat aber in Eigenregie etwas über 500 Millionen Euro zusammengekratzt, um ab dem Sommer für ein Jahr die Anschlussfinanzierung von Projekten sicherzustellen, die mit dem Geld des Türkei-Deals begonnen wurden - beispielsweise für den Unterhalt von Schulen, die für Flüchtlinge gebaut wurden. Dennoch stehen viele dieser Projekte vor dem Aus, kritisiert der Politikberater Gerald Knaus, der als Architekt des Abkommens mit der Türkei gilt. "Und neue Vorhaben gibt es nicht, die letzten wurden im Dezember 2019 geplant." Zudem habe die EU in ihren Haushaltsplanungen die Flüchtlinge in der Türkei praktisch nicht berücksichtigt. "Damit hat sie mit einer Mischung aus Hochmut und Blindheit den Türkei-Deal leichtfertig aufs Spiel gesetzt", sagt Knaus.

2.  Visafreiheit
Erdogan geht es auch um die Versprechungen, die jenseits des Geldes Bestandteil des Flüchtlingsdeals waren. Das betrifft vor allem die Visafreiheit für türkische Bürger bei der Einreise in die EU. Das Problem ist, dass die Türkei dafür Voraussetzungen – es geht um eine Liste von 72 Punkten - erfüllen muss, darunter die Verbesserung der Menschenrechtslage.

Daran ändert der Flüchtlingsdeal nichts, auch wenn die türkische Regierung immer wieder das Gegenteil behauptet. Bei der Terrorismus-Gesetzgebung und der Korruptionsbekämpfung etwa gibt es spätestens seit der Niederschlagung des Putschversuchs Mitte Juli 2016 deutlich mehr Rück- als Fortschritte.

3.  Hilfe in Syrien
Erdogan hat sich mit seiner Militärintervention in Syrien in eine Sackgasse manövriert – und will nun, dass EU und Nato ihm beispringen. Die Türken haben kürzlich bei der Nato eine Liste mit zehn Anforderungen hinterlegt, die sich grob in zwei Teile gliedern lässt.

Zum einen geht es um mehr von dem, was die Nato schon macht: Luftverteidigung, mehr Awacs-Aufklärungsflugzeuge und mehr Schiffe im östlichen Mittelmeer

Zum anderen wollen die Türken auch Neue, beispielsweise Aufklärungsdrohnen. Darum wird es gehen, wenn Erdogan mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zusammenkommt, bevor er sich mit den EU-Spitzen trifft

Zwar hat sich Erdogan vergangenen Donnerstag mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin auf einen Waffenstillstand im syrischen Idlib geeinigt. Ihm dürfte jedoch bewusst sein, dass diese Übereinkunft - wie ähnliche Deals in der Vergangenheit - kaum von Dauer sein wird. Will Erdogan seine Interessen in Idlib dauerhaft durchsetzen, braucht er die politische Unterstützung aus dem Ausland, vor allem aus Europa und den USA.

Wie stark ist Erdogans Verhandlungsposition?
Dass Erdogans Besuch zustande kam, so heißt es in Brüssel, hing maßgeblich von einer Entwicklung am Wochenende ab. Erdogan sendete trotz aller verbalen Drohungen an einer entscheidenden Stelle Entspannungssignale: Er wies seine Küstenwache an, die Abreise von Migranten über die Ägäis zu unterbinden. Für die EU ist das entscheidend. Denn während die Griechen die Landgrenze zwar brutal, aber am Ende effektiv sichern können, ist dies bei der Überfahrt auf Inseln wie Lesbos kaum möglich. "Die Inseln sind unsere Schwachstelle", sagt ein hochrangiger EU-Diplomat.

Mit anderen Worten: Die Europäer wissen genau, dass Erdogan durchaus noch Möglichkeiten hat, sein zynisches Spiel mit den Flüchtlingen wieder aufzunehmen und sogar noch zu eskalieren. Er wähnt sich gegenüber den Europäern deshalb in einer starken Verhandlungsposition. Aus seiner Sicht haben die vergangenen eineinhalb Wochen gezeigt, wie groß die Angst der EU ist, dass Flüchtlinge über die griechisch-türkische Grenze gelangen.

Aus Sicht der EU dagegen haben die vergangenen Tage dagegen gezeigt, dass man zumindest die Landgrenze sehr wohl sichern kann. Anders als 2015 ist die Reaktion diesmal eindeutig: Die Grenzen bleiben zu. Die EU hält inzwischen auch die Bilder von Tränengas auf Flüchtlinge aus. Darauf muss man keinesfalls stolz sein, doch es nimmt Erdogan ein Stück weit sein Erpressungspotential.

Erdogan bekommt Konkurrenz im konservativen Lager
Zudem hat der Flüchtlingspakt nicht nur die EU von der Türkei abhängig gemacht – umgekehrt ist es ähnlich, sagt Politikberater Knaus. Erdogan sei auf das Geld "dringend angewiesen" – denn die syrischen Flüchtlinge drohen auch für ihn zu einem immer größeren Problem zu werden.

"Den Türken ist inzwischen klar, dass die derzeit rund 3,5 Millionen Syrier erst einmal in der Türkei bleiben", sagt Knaus. Sie brächten zudem Schätzungen zufolge rund 100.000 Kinder pro Jahr zur Welt, die ebenfalls versorgt werden müssen. Obendrein könnten jederzeit erneut Hunderttausende Flüchtlinge von Syrien in die Türkei kommen, sollte die Situation in Idlib eskalieren.

Zugleich herrscht in dem Land nach wie vor eine Wirtschaftskrise, auf die Erdogans Regierung bisher keine Antwort gefunden hat. Das steigert den innenpolitischen Druck. Selbst im konservativen Lager bekommt Erdogan Konkurrenz, da der frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan am Montag die lang erwartete Gründung seiner Partei bekanntgab. Die Chancen für eine Einigung zwischen Brüssel und Ankara könnte das sogar steigern, meint Knaus – sofern drei Dinge geschehen:

Die EU sollte ausdrücklich anbieten, dass sie bereit ist, für die Flüchtlinge in der Türkei in den nächsten vier Jahren genauso viel Geld zur Verfügung zu stellen wie in den vergangenen vier Jahren.

Im Gegenzug müsste Erdogan zusichern, die Situation an der Grenze zu Griechenland sofort zu entschärfen.

In den nächsten Wochen müssten Brüssel und Ankara ein Anschlussabkommen aushandeln. Es müsste nicht nur die Verwendung der neuen Gelder regeln, sondern auch die Bedingungen schaffen, dass mehr Flüchtlinge in die EU aufgenommen und zugleich mehr irreguläre Migranten von Griechenland in die Türkei zurückgeschickt werden.

Derzeit aber fahre die EU den schlimmstmöglichen Kurs, findet Knaus: Sie habe den Pakt mit der Türkei mutwillig aufs Spiel gesetzt und an der griechischen Grenze faktisch das Asylrecht abgeschafft. "Das", sagt Knaus, "hat bisher nicht einmal US-Präsident Trump an der Grenze zu Mexiko gewagt."

spiegel


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