Wie sich Fehler wiederholen

  17 März 2020    Gelesen: 825
  Wie sich Fehler wiederholen

Die Spanische Grippe tötet Anfang des 20. Jahrhunderts über 50 Millionen Menschen. Ein Blick auf die Ereignisse vor 100 Jahren zeigt, dass sich im Vergleich zur Coronavirus-Pandemie einiges im Umgang mit der Seuche ähnelt. Und das ist nicht unbedingt etwas Gutes.

Schon heute steht fest, dass der Coronakrise von 2020 in künftigen Geschichtsbüchern ein ausgedehnter Beitrag gewidmet werden wird. Unabhängig vom weiteren Verlauf ist ihre Einzigartigkeit unbestritten. Die rasche Ausbreitung des Virus, die Stilllegung des öffentlichen Lebens in vielen Teilen der Welt und die unablässige Nachrichten- und auch Spekulationsflut hat es in dieser Form noch nie gegeben. Pandemien jedoch schon. Eine der größten liegt etwas mehr als 100 Jahre zurück.

Zwischen 1918 und 1920 erfasste die Spanische Grippe den gesamten Erdball und forderte 50 Millionen Todesopfer, die im Schatten des Ersten Weltkriegs in der Erinnerungskultur vergleichsweise wenig Beachtung fanden. Gedenkstätten für die Grippeopfer gibt es nicht, obwohl die Zahlen eindrücklich sind: Allein in den USA starben 675.000 Zivilisten und damit mehr US-Amerikaner als auf den Schlachtfeldern in den beiden Weltkriegen. In Deutschland kamen 544.000 Menschen ums Leben. In Indien wurden sechs Prozent der gesamten Bevölkerung ausradiert, das entspricht 18,6 Millionen Menschen. In China waren es zwei Prozent (9,5 Millionen Menschen).

Seuchen dehnten sich früher nur so schnell aus, wie ein Reisender zu Fuß oder mit der Pferdekutsche ins nächste Dorf ziehen konnte. Die Welt von 1918 war aber schon wesentlich mobiler und stärker vernetzt. Über Schiffe, Züge und Automobile konnte sich das Virus rasant verbreiten. Kein Teil der Erde blieb dabei verschont - von den Stränden Brasiliens über die Häfen Südostasiens bis hin zu den großen Metropolen. "In den Zügen und Straßenbahnen war die Verzweiflung auf den Gesichtern der Reisenden abzulesen. Es wurde nur noch über die besonders traurigen Todesfälle gesprochen." Dieser Satz stammt nicht aus einer italienischen Tageszeitung der letzten Tage, sondern aus einem Tagebucheintrag von Caroline Playne, die ihre Eindrücke aus London im Jahr 1918 schilderte.

Niesen, Husten, Erbrechen

Der Influenza-A-Virus H1N1, so die Fachbezeichnung für die Spanische Grippe, war statistisch gesehen vor allem für Menschen zwischen 18 und 40 Jahren tödlich. Jene mit einem besonders widerstandsfähigen Immunsystem raffte es dahin, weil das Virus einen Zytokinsturm - eine Überreaktion des Immunsystems - auslöste. Gerade deshalb hingen der Erste Weltkrieg und die Spanische Grippe unmittelbar miteinander zusammen. Viele Forscher gehen heute davon aus, dass die Grippe erstmals im Fort Riley, einem militärischen Stützpunkt im US-amerikanischen Bundesstaat Kansas, auftrat. Das war im März 1918, einige Wochen, bevor die Soldaten die Schlachtfelder in Frankreich erreichten und sich das Virus in Europa verbreitete.

Die Schützengräben waren ohnehin schon von Ratten bevölkert. Ein Geruch von Eiter und Exkrementen lag in der Luft. Die Spanische Grippe gab vielen Soldaten, also den jungen Männern mit eigentlich starkem Immunsystem, den Rest. Wenn die ersten Symptome sichtbar wurden, begannen sie unablässig zu niesen, zu husten und sich zu übergeben. "Ich war so fiebrig, dass ich Angst hatte, meine Kleidung würde zu brennen beginnen. Ich hatte einen so starken Husten, dass er meine Eingeweide nach außen brachte, wenn ich ihn nicht mehr unterdrücken konnte", schrieb der US-Soldat Franklin Martin. Neben der Hölle des Stellungskriegs kam die unsichtbare Gefahr der Grippe hinzu, von der auch die Mediziner wenig bis gar nichts verstanden. Die Influenzaviren wurden erst 1933 entdeckt.

Dafür reagierten Verschwörungstheoretiker und Kriegspropagandisten. Die "New York Times" berichtete, dass die Grippe nur die Deutschen befallen habe und forderte, das Phänomen in "Deutsche Grippe" umzubenennen. Ansonsten aber waren die Einträge in den Notizbüchern der Kriegsberichterstatter nutzlos, denn sowohl die Alliierten als auch die Deutschen verhängten strenge Zensurregelungen und erlaubten keine Mitteilungen über die zahlreichen Grippekranken an der Front.

So kam auch der Name "Spanische Grippe" zustande. Die neutralen Iberer berichteten munter über die Zustände an der Front, während sich das Virus in Madrid im Mai 1918 ausbreitete und auch König Alfonso XIII. aufs Krankenbett zwang. Einige britische und französische Zeitungen umgingen die Zensur und druckten die Artikel der Spanier ab, während sich in der Öffentlichkeit langsam der Begriff der Spanischen Grippe etablierte, obwohl das Virus auf keinen Fall dort entstand. Die Spanier waren darüber keineswegs erfreut, sodass sie die Franzosen für den Ausbruch der Grippe verantwortlich machten. Eine Welle von Fake News und ein weit verbreiteter Trieb, andere als Auslöser einer Pandemie zu beschuldigen, sind insofern nicht nur Charakteristika der Coronakrise.

Die Suche nach Sündenböcken

Ähnlich verhält es sich beim Rassismus, der gerade in den ersten zwei Monaten dieses Jahres vielfach zu beobachten war. Auf internationalen Messen oder selbst in den Innenstädten Europas wurden Chinesen und solche, die für Chinesen gehalten wurden, kritisch beäugt. Die Zeitgenossen von 1918 standen dem in nichts nach. Viele US-Amerikaner sahen die italienischen und jüdischen Einwandererviertel als "Brutstätten der Pandemie". Da unter Juden die Tuberkulose verbreitet war, urteilten einige Beobachter in New York, dass der "jüdische Körper minderwertiger als der christliche" wäre.

Auf dem afrikanischen Kontinent, der bis auf Äthiopien unter europäischer Kolonialherrschaft stand, wütete ebenfalls die Grippe und zog die Bevölkerung in Städten wie Lagos und Kapstadt erheblich in Mitleidenschaft. Eine solche Grippewelle war für die Ureinwohner etwas komplett Neues, weshalb sie rasch zu dem Urteil kamen, dass es sich um die "Grippe des weißen Mannes" handeln musste. Südafrikanische Zeitzeugen schrieben etwa, die Grippe wäre ein "Mittel der Europäer, um die einheimischen Rassen Südafrikas endgültig auszulöschen." Auf der anderen Seite sahen die Kolonialisten die mangelnde Hygiene der Schwarzen als Hauptgrund für die Verbreitung und erzwangen starke Segregation. Obwohl die Apartheid in Südafrika offiziell erst 1948 begann, hatte sie ihre Ursprünge in der Grippewelle von 1918.

Niemand übernahm Verantwortung

Effektive Gegenmaßnahmen, um das Virus zu bekämpfen, gab es nicht. Albert Marrin urteilt etwa in seinem Buch "Very, Very, Very Dreadful" (zu Deutsch: "Sehr, sehr, sehr schrecklich"), dass beispielsweise die Vereinigten Staaten unter einer schwachen Führung zu leiden hatten. Rupert Blue, der Sanitätsinspekteur der USA, empfahl im Herbst 1918, alle öffentlichen Einrichtungen, in denen sich das Virus am leichtesten ausbreiten könnte, zu schließen. Es blieb bei einer Empfehlung. "Während der gesamten Pandemie gab es keine einheitlichen Regelungen für öffentliche Räume", schreibt Marrin. "Es existierte keine zentrale Autorität mit ausreichender Macht. Jede Stadt war auf sich gestellt und musste das befolgen, was gewählte Vertreter für das Beste hielten."

Nur wenige reagierten geistesgegenwärtig wie St. Louis' Bürgermeister Henry Kiel und insbesondere der städtische Gesundheitsbeauftragte Max Starkloff, der öffentliche Versammlungen verbot, Schulen und Kneipen schloss. Vielfach mussten sich die Menschen selbst helfen. Oder sie suchten in der Verzweiflung Hilfe bei Scharlatanen, baten bei Gottesdiensten um Vergebung oder probierten Drogen wie Heroin und Morphium aus. Derweil entwickelten sich weiße Schutzmasken aus Baumwolle, die eigentlich nur Chirurgen und Krankenschwester trugen, zu einer Art Modeaccessoire. Das Rote Kreuz verteilte Millionen dieser Masken. Sie wurden von Spielern beim Baseball ebenso wie von Sekretärinnen im Büro getragen, für Kettenraucher gab es ein eingebautes Loch. Der Bürgermeister von San Francisco sagte geradeheraus: "Jeder, der seine Maske vergisst, wird sterben." Aber durch die Straßen von San Francisco, New York oder London strömten weiterhin jeden Tag Menschenmassen und verbreiteten das Virus.

Im Umgang mit dem Virus waren die Reaktionen sehr ähnlich wie heute. Erst wurde das Problem heruntergespielt, dann wurden andere beschuldigt und irgendwann kam die Einsicht, dass die Pandemie nur schwer aufzuhalten war. Die politischen Führer reagierten viel zu spät oder überhaupt nicht, weil eine andere Angelegenheit - namentlich der Krieg - Vorrang hatte. Statt radikale Ausgangssperren für einen überschaubaren Zeitraum zu verhängen, blieb es bei halbherzigen Maßnahmen, sodass über zwei Jahre hinweg insgesamt drei Ausbreitungswellen auftraten, die viele Millionen Menschen das Leben kosteten und die Gesundheit vieler weiterer Millionen nachhaltig schädigten. Die moderne Medizin hat seitdem viele Fortschritte gemacht, aber die Fehler von einst wiederholen sich in diesen Tagen dennoch.

Quelle: ntv.de


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