Der erste Corona-Diktator

  21 März 2020    Gelesen: 969
  Der erste Corona-Diktator

Israels Regierungschef Netanyahu regiert in der Coronakrise per Notdekret, stärkt den Geheimdienst und greift massiv in die Persönlichkeitsrechte der Bürger ein - ohne Kontrolle des Parlaments.

Das Coronavirus hat in Israel ein erstes Opfer gefordert: die parlamentarische Demokratie. Am Mittwoch verhinderte Yuli Edelstein, Parlamentschef und Parteifreund von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, dass die Anfang März gewählten Abgeordneten ihren Job machen können.

Er riegelte kurzerhand die Knesset ab und verhinderte damit nicht nur die Wahl seines eigenen Nachfolgers sondern auch, dass sich Parlamentskomitees konstituieren konnten - etwa ein Ausschuss, der den Umgang der Regierung mit der Coronakrise überwachen könnte. Edelstein vertagte die nächste Parlamentssitzung auf Montag. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wegen der fortschreitenden Corona-Pandemie auch dieser Termin entfällt.

Damit konzentriert sich immer mehr Macht in den Händen des Mannes, der seit mehr als einem Jahr keine parlamentarische Mehrheit mehr hat und nur noch als geschäftsführender Ministerpräsident amtiert: Benjamin Netanyahu. Seit April vergangenen Jahres hat sich der Likudchef insgesamt drei Neuwahlen gestellt. Nach keiner ist es ihm gelungen, eine Koalition zu bilden, die eine Mehrheit im Parlament hat.

Mehr noch: Nach der jüngsten Knessetwahl haben sogar 61 von 120 Abgeordneten den Oppositionschef Benny Gantz als zukünftigen Premierminister vorgeschlagen. Daraufhin beauftragte Staatspräsident Reuven Rivlin den Vorsitzenden des Parteienbündnisses Blau-Weiß mit der Regierungsbildung.

Netanyahu hat also nur eine Minderheit der vom Volk gewählten Abgeordneten hinter sich, sein Parlamentssprecher und Parteifreund Edelstein blockiert aber die Rechte der Mehrheit. Deshalb sprechen längst nicht mehr nur politische Gegner Netanyahus von einem Putsch oder vom drohenden Ende der israelischen Demokratie. Der israelische Historiker Yuval Harari sieht in Israel "die erste Coronavirus-Diktatur" entstehen.

Yaakov Katz, Chefredakteur der konservativen, Netanyahu wohlgesonnenen "Jerusalem Post", bezeichnete das Vorgehen des amtierenden Regierungschefs als "schwere Verletzung des israelischen Rechtsstaats und der Demokratie". Der Likud müsse aufhören, seine Macht zu missbrauchen. Staatspräsident Reuven Rivlin, der seinem Likud-Parteifreund Netanyahu seit Jahren in tiefer Abneigung verbunden ist, warnt: "Die Coronakrise darf nicht erlauben, dass wir unsere demokratische Infrastruktur so stark beschädigen."

Netanyahus Kritiker verweisen darauf, dass Israel in seiner Geschichte mehrfach in Kriegen gegen seine arabischen Nachbarn um seine nackte Existenz kämpfen musste, niemals habe zu Kriegszeiten die Regierung aber den demokratischen Charakter Israels in Frage gestellt. Genau das tue nun aber Netanyahu in der Coronakrise.

Der Inlandsgeheimdienst soll im Kampf gegen das Virus helfen
Netanyahu ignoriert diese Warnungen. Er regiert einfach weiter, so als habe es die Wahlen gar nicht gegeben. Das Coronavirus spielt ihm dabei in die Hände. Wegen der Epidemie wurde die Verlesung der Anklage gegen ihn wegen Betrug, Bestechlichkeit und Untreue, die eigentlich am Dienstag hätte stattfinden sollen, verschoben. Wann der Prozess gegen den Premierminister beginnt, kann wegen der Coronakrise derzeit niemand verlässlich vorhersagen. Bis Freitagabend waren nach offiziellen Angaben 705 Menschen in Israel an Covid-19 erkrankt, ein 88-Jähriger ist am Virus verstorben, ein Patient ist in kritischem Zustand.

Netanyahu inszeniert sich derweil als der Politiker, der als einziger Israel vor den katastrophalen Folgen der Epidemie bewahren kann. "Während ich den Krieg gegen das Coronavirus und den Kampf um die Leben israelischer Bürger führe, planen sie die Absetzung des Ministerpräsidenten", sagte Netanyahu am Mittwoch mit Blick auf seine Kritiker in einem TV-Interview.

Im Kampf gegen das Virus greift Netanyahu zu drastischen Mitteln: Israel hat nicht nur seine Staatsgrenzen abgeriegelt, eine weitreichende Ausgangssperre verhängt und Tausende Bürger unter Quarantäne gestellt. In dieser Woche autorisierte Netanyahus Kabinett den Inlandsgeheimdienst Schin Bet tätig zu werden. Der Geheimdienst sammelt seit mindestens 2002 die Metadaten aller Handynutzer in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Bislang setzt der Schin Bet die Technik nach offiziellen Angaben nur im Anti-Terror-Kampf ein, etwa um militante Palästinenser zu orten.

Kundgebungen sind wegen der Coronakrise verboten
Nun soll der Geheimdienst mit Hilfe der Handydaten herausfinden, mit wem Corona-Infizierte in den vergangenen Wochen engen Kontakt hatten. Diese Personen sollen dann automatisch per Textnachricht informiert und aufgefordert werden, sich selbst zu isolieren.

Bürgerrechtsgruppen kritisieren die Praxis als massiven Eingriff in die persönlichen Rechte der Israelis. Vor allem, weil Netanyahu den Geheimdienst ohne Parlamentsdebatte autorisierte und weil es wegen der Knesset-Schließung derzeit keine parlamentarische Kontrolle der Regierung oder des Geheimdienstes gibt. Ausgerechnet Generalstaatsanwalt Avichai Mandelbilt, der die Untersuchungen gegen Netanyahu in der Korruptionsaffäre leitet, billigte den Einsatz des Schin Bet.

Am Donnerstag wies Israels Oberstes Gericht die Regierung in die Schranken: Sollte die Knesset bis Dienstag kein Komitee zur Kontrolle des Überwachungsprogramms gewählt haben, müsse der Einsatz des Schin Bet beendet werden. Außerdem urteilten die Richter, dass die Metadaten nicht eingesetzt werden dürften, Israelis zu überwachen, die unter Quarantäne stehen.

Knesset-Chef Edelstein beteuert, dass die Abgeordneten in der kommenden Woche die Parlamentskomitees zur Überwachung der Regierungsarbeit abstimmen könnten. Doch nicht alle glauben daran. Am Donnerstag fuhren Netanyahu-Gegner in einem Konvoi von Tel Aviv nach Jerusalem, ein paar von ihnen demonstrierten später vor der leeren Knesset. Acht Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen. Netanyahu hat nämlich wegen des Coronavirus Versammlungen von mehr als zehn Personen verboten und die Polizei angewiesen, Kundgebungen aufzulösen – auch das per Dekret, ohne Parlamentsbeschluss.

spiegel


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