Wenn Unsinn die Runde macht, sind Journalisten in der Zwickmühle. Sollen sie die Falschinformation richtigstellen, und dem Urheber damit eine Plattform bieten? Oder sollen sie den Quatsch einfach ignorieren?
Im Fall von Wolfgang Wodarg ist Letzteres leider keine Option mehr. Wodarg kann Expertise vorweisen - und wird mit seinen Inhalten wohl ernster genommen als die Beiträge mancher offensichtlich unqualifizierten Unbekannten, die durchs Netz gehen.
Wodarg hat Medizin studiert und das Gesundheitsamt der Stadt Flensburg geleitet. Die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore vergab ein Stipendium an ihn und er saß von 1994 bis 2009 für die SPD im deutschen Bundestag. Nun erklärt der Mann in zwei Videos auf YouTube, die sich derzeit über Nachrichten und in sozialen Medien ausbreiten, dass die Maßnahmen gegen das neue Coronavirus Sars-CoV-2 "Panikmache" seien.Er behauptet, Coronaviren kursierten schon lange in der Bevölkerung, mutierten ständig und trügen so schon immer zu den zahlreichen Todesfällen zur Grippesaison bei. Ob es ein neues, gefährliches Virus gebe, könne man erst sagen, wenn klar sei, dass in diesem Winter mehr Menschen an Atemwegsinfektionen gestorben seien als üblich.
Dass das Virus nun so viel Aufmerksamkeit erhalte, liege allein daran, dass ein Test zur Verfügung stehe, mit dem Forscher sich wichtig machen und Geld verdienen könnten, so Wodarg. Dieser Test könne das neue Virus möglicherweise gar nicht verlässlich erkennen.
Wodarg argumentiert geschickt. Viele seiner grundsätzlichen Aussagen sind korrekt. Damit schafft er Vertrauen, selbst bei Leuten, die sich mit medizinischen Sachverhalten auskennen. Seine Schlussfolgerungen wirken schlüssig, bleibt man in seiner Logik. Dass seine Videos mit Vorsicht zu genießen sind, erkennt man bei genauem Hinsehen aber allein schon an den YouTube-Kanälen, in denen sie erschienen sind.
Der eine verbreitet neben Wodargs Thesen Verschwörungstheorien aus dem Reichsbürgermilieu, es geht um Chemtrails und Satan. Der andere Kanal gehört einem freiberuflichen Filmemacher, der per Crowdfunding Zehntausende Euro für einen Film über den "Viruswahn" sammeln will.
Zwar stimmt es, dass Coronaviren mit ungefähr zehn Prozent zu den saisonalen Atemwegserkrankungen beitragen. Auch schwere Infektionen mit Todesfolge kommen bei den saisonalen Coronaviren vor, sind - wie bei anderen Erkältungen - aber sehr selten. Die Zahl der Toten durch die vier relativ harmlosen, verbreiteten Coronaviren in einer gesamten Saison mit den bisherigen Toten der Sars-CoV-2-Pandemie zu vergleichen, führt daher in die Irre.
2. Endemie ist nicht gleich Pandemie
Entscheidend dafür, wie gefährlich eine Krankheit für die Gesellschaft ist, ist allerdings nicht nur, wie sehr sie dem Körper zusetzt, sondern vor allem, mit welcher Geschwindigkeit sie sich ausbreitet. Eine Pandemie zeichnet sich dadurch aus, dass sehr viele Menschen in kurzer Zeit krank werden. Das kann dazu führen, dass Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenze stoßen.
Was passiert, wenn es nicht gelingt, die Ausbreitung des neuen Coronavirus zu verlangsamen, kann man derzeit in Italien beobachten. Dort reicht der Platz in den Krankenhäusern nicht mehr aus, um alle Patienten zu behandeln. Knapp 3000 Menschen sind in dem Land laut WHO bereits nach einer Infektion mit dem Coronavirus gestorben (Stand 19. März 2020), obwohl es 20 Millionen Einwohner weniger hat als Deutschland.
Dass es auch hierzulande zu ähnlich vielen oder mehr Fällen kommen wird, erscheint nicht unrealistisch. Noch stehen wir am Anfang der Ausbreitung. Knapp 14.000 Menschen wurden laut Robert Koch-Institut (RKI) bislang positiv auf das neue Coronavirus getestet, 31 sind gestorben. Innerhalb einer Woche hat sich die Zahl der Infizierten damit ungefähr verfünffacht.
Trotzdem fällt Sars-CoV-2, wie Wodarg sagt, in der Statistik der saisonalen Atemwegserkrankungen in Deutschland bislang tatsächlich nicht auf. Das wird sich aber mit großer Sicherheit ändern, wenn die Pandemie nicht gestoppt wird. Zur Einordnung, was ein exponentieller Anstieg bedeuten kann: Bei einer weiteren Verfünffachung jede Woche hätten wir hierzulande schon in vier Wochen 8,8 Millionen nachweislich Sars-CoV-2-Infizierte und bei einer Sterblichkeit von 0,2 Prozent ungefähr 17.500 Tote.
Eine Pandemie kann innerhalb weniger Wochen zu so vielen Infizierten und Toten führen wie sonst eine ganze Grippesaison. Deutschland kann warten, bis es so weit ist, oder die verbleibende Zeit nutzen, um alles dafür zu tun, das neue Coronavirus, so gut wie irgend möglich, auszubremsen.
3. Sars-CoV-2 ist neu für den Menschen
Bleibt noch der Vorwurf, es handele sich bei Sars-CoV-2 gar nicht um einen neuen Erregertyp und man könne Infizierte nicht verlässlich testen. Wodarg argumentiert, eines der bekannten Coronaviren sei mutiert und wohl für die derzeitigen Krankheitsfälle verantwortlich. Das passiere ständig und sei nichts Ungewöhnliches.
Zwar hat er recht, dass Viren häufig mutieren. Das kennen Laien von der Grippe, für die es jedes Jahr einen neuen Impfstoff braucht, weil sich das Erbgut der Erreger verändert hat. Doch Sars-CoV-2 ist nicht aus einem der vier bereits verbreiteten Coronaviren entstanden, sondern Ende 2019 erstmals von einem Tier auf den Menschen übergesprungen.
Die Verwandtschaftsverhältnisse können Experten analysieren, indem sie das Erbgut und die darin enthaltenen Mutationen von verschiedenen Viren vergleichen (mehr dazu lesen Sie hier). Tiere sind dabei Wirte zahlreicher Coronaviren. So ist es auch nicht das erste Mal, dass ein solches Virus vom Tier auf den Menschen übergegangen ist.
Ähnliche Fälle gab es 2002 und 2012 mit den Coronaviren Sars-CoV und Mers-CoV . Auch das Sars-Virus löste damals ausgehend von China eine Pandemie aus, die mit etwa 8000 Infizierten aber glimpflicher verlief als der aktuelle Corona-Ausbruch. Das Sars-Virus wurde übrigens seit 2004 nicht mehr im Menschen nachgewiesen, obwohl es einen anerkannten Test gibt.
Welches Tier das neue Sars-CoV-2-Virus auf den Menschen übertragen hat, ist noch nicht klar. In Fledermäusen haben Forscher Coronaviren gefunden, die dem neuen Erreger ähnlich sind. Es werden aber auch Gürteltiere als Überträger diskutiert. Fest steht: Das neue Virus ist diesen Viren ähnlicher als den vier bereits im Menschen zirkulierenden.
Nachgewiesen werden kann Sars-CoV-2 unter anderem mit einem Test, den der Virologe Christian Drosten von der Charité in Berlin auf der Basis des etablierten Testverfahrens für das Sars-Virus entwickelt hat. Um den Test anzupassen, suchte Drosten im Erbgut des neuen Coronavirus nach für dieses typischen Elementen. Anschließend testete er sein Verfahren mit Proben von 300 Patienten, von denen bekannt war, an welchen Viren sie erkrankt waren.
"Der Test reagiert auf kein anderes im Menschen verbreitetes Corona- oder Erkältungsvirus als Sars-CoV-2", erklärt Drosten im "NDR"-Podcast. Das Testprotokoll können Laien und Fachleute frei zugänglich auf der Seite der WHO abrufen. Bislang hat kein anerkannter Fachmann grundsätzliche Zweifel angemeldet.
Wodarg fordert, es sollten mehr abseitige und weniger "Mainstream"-Meinungen zum Coronavirus gehört werden. Das wäre wohl in seinem Sinne, aber nicht im Sinne einer guten Berichterstattung. Wenn abwegige Einzelmeinungen anerkannten Fakten scheinbar gleichberechtigt gegenübergestellt werden, entsteht ein falscher Eindruck - eine sogenannte false Balance oder falsche Gewichtung. Sie zu vermeiden, ist gerade in Krisenzeiten wichtig.
Es wäre für alle gefährlich, wenn die breite Masse Wodargs Ausführungen Glauben schenken und leichtfertig Schutzmaßnahmen ablegen würde. Auch, wenn sich über die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen immer streiten lässt und Chancen und Risiken genau abgewogen werden müssen. Forscher versuchen derzeit aufzuklären, sodass sich Deutschland wappnen kann und die Menschen verstehen, warum gründliches Händewaschen und Abstandhaltern in Zeiten einer Pandemie so wichtig ist - ganz ohne in Panik zu verfallen.
Zu der Kritik an seinen Videos hat Wodarg auf SPIEGEL-Anfrage nicht Stellung genommen.
spiegel
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