Der stille Tod in den Vororten von Paris

  11 April 2020    Gelesen: 890
Der stille Tod in den Vororten von Paris

Im Département Seine-Saint-Denis im Großraum Paris stieg die Mortalitätsrate in einer Woche um über 50 Prozent. Viele machten umgehend die Anwohner selbst für die vielen Toten verantwortlich - zu Unrecht.

Es war der nationale Gesundheitsdirektor Jérôme Salomon, der die Zahl als Erster nannte. In seinem allabendlichen Livereport zur Coronakrise sprach er vergangene Woche von einer "erstaunlichen Mortalitätsrate" im Département Seine-Saint-Denis. In der letzten Märzwoche seien dort 63 Prozent mehr Menschen gestorben als in der Woche zuvor; das sind fast dreißig Prozent mehr als im nationalen Durchschnitt des Landes. Dabei leben im Département außergewöhnlich viel junge Franzosen: fast ein Drittel ist unter 20 Jahre alt. 

Das Département 93 zählt nicht erst seit Ausbruch des Coronavirus zur Problemzone Frankreichs. Wer besichtigen möchte, was die Republik an sozialen Ungerechtigkeiten zu bieten hat, der sollte hierherfahren. Dorthin, wo sich noch immer Betonburgen aneinanderreihen, wo siebenköpfige Familien auf 50 Quadratmetern zusammenleben und noch weniger Intensivbetten in den Krankenhäusern stehen als im Rest des Landes.

1,6 Millionen Menschen wohnen im Département Seine-Saint-Denis im Norden und Nordosten der französischen Hauptstadt. Pariser nennen es nur kurz "93", nach der Postleitzahl der Region. Bewerbungsschreiben mit dieser Zahl im Absender haben es schwer, denn wer hier wohnt, zählt zu den Abgehängten, den Minderbegabten, dem Prekariat. Und lebt nun auch noch mitten im Corona-Krisengebiet vor den Toren der Hauptstadt.

Warum breitet sich das Virus dort so massiv aus?
Vertreter mehrerer Vereine des Départements veröffentlichten diese Woche einen wütenden Gastbeitrag in der Tageszeitung "Libération": Erneut würde man nun mit dem Finger auf die Bewohner im "93" zeigen und sie verdächtigen, die Regeln der Ausgangssperre nicht zu akzeptieren. Dabei würde die jetzige Krise nur die sozialen und geografischen Ungerechtigkeiten der französischen Gesellschaft offenlegen: "Entgegen aller Vorurteile halten sich die Leute hier an die Regeln."

40 Gemeinden gehören zum Département, eine davon ist Bondy: knapp 54.000 Einwohner, viele davon Einwanderer. Der Fußballer Kylian Mbappé wurde hier geboren. 

"Natürlich war es nicht einfach, hier in den ersten Tagen die Notwendigkeit der Ausgangssperre zu erklären", sagt Anouk Giana am Telefon, in der Stadtverwaltung von Bondy zuständig für die öffentliche Ordnung. "Sagen Sie mal Jugendlichen, die es gewohnt sind, ihre Freizeit draußen mit Freunden zu verbringen, sie müssten in den kommenden Wochen mit ihren Eltern und kleinen Geschwistern in ihren engen Wohnungen bleiben." Viele der Jungen hätten zudem das Virus am Anfang als "Fake News" abgetan. Jetzt aber hielten sich alle an die Regeln. 

Warum aber sterben dann trotzdem so viele im Département?

Helden der zweiten Reihe
Das liege zum einen an der extrem beengten Wohnsituation. Wo viele Menschen auf wenig Quadratmetern leben, werde die Verbreitung des Virus befördert, sagt Giana. "Zum anderen ist für die meisten unserer Bewohner Arbeit im Homeoffice keine Option. Sie sind Kassiererinnen im Supermarkt, Krankenschwestern, Putzfrauen, Lieferfahrer oder Pflegekräfte; Leute, die sich die teuren Mieten in Paris nicht leisten können. Und in all diesen Berufen werden sie verstärkt dem Ansteckungsrisiko ausgesetzt."

Helden der zweiten und dritten Reihe hatte Präsident Emmanuel Macron in einer seiner Fernsehansprachen an die Nation all jene genannt, die sich hier morgens in die überfüllte Linie RER B nach Paris quetschen und das Land am Laufen halten. Aber für die Helden gibt es im Département 93 seit Jahren schon weniger Krankenhausbetten als in Paris, weniger Ärzte, eine schlechter ausgestattete Intensivmedizin.

Eine dieser Heldinnen war die 52-jährige Kassiererin Aicha Issadounene, sie arbeitete in einem Carrefour-Supermarkt in Saint-Denis. Am 26. März erlag sie der Atemwegskrankheit Covid-19, seither wird sie im "93" wie eine Märtyrerin gefeiert. Der Kampf gegen Corona ist in diesen Tagen in Frankreich auch ein Klassenkampf. Die kommunistische Gewerkschaft CGT rief inmitten der Krise zum Streik auf, um bessere Schutzmaßnahmen für Arbeiter und Angestellte durchzusetzen. 

Die sozialistische Bürgermeisterin von Bondy, Sylvine Thomassin, dokumentiert den Ausnahmezustand in ihrer Stadt täglich auf ihrer Facebook-Seite. Noch nie habe sie in so kurzer Zeit so viele Todesscheine ausstellen müssen, schreibt sie. 46 waren es im März, 18 allein in der ersten Aprilwoche. Aber es gibt auch gute Nachrichten: Vor wenigen Tagen wurde ein neues Covid-19-Gesundheitszentrum im Palais de Sports von Bondy eröffnet, die Krankenhäuser konnten den Andrang allein nicht mehr bewältigen.

Und, "eine Nachricht, die das Herz wärmt", so die Bürgermeisterin: Kylian Mbappé habe Bondy nicht vergessen und Ende März 1000 Bücher für Alte und Kinder des Ortes gespendet, außerdem wolle der Fußballer und vielfache Millionär eine Aufstockung der Intensivbetten finanzieren.

Hilfe für Obdachlose, Misshandelte und Schüler
Vehement wehrt sich Thomassin gegen die Stigmatisierung der Bevölkerung von Bondy. Hier lebten nun einmal für das Virus anfälligere Gruppen, hat sie in Radiosendungen und den Hauptnachrichten von France 2 erklärt: Diabeteskranke zum Beispiel, Bluthochdruckpatienten und Übergewichtige.

Obdachlosen und Migranten, die hier in wilden Camps unter freiem Himmel wohnten, wurden inzwischen kostenlos Hotelzimmer angeboten. "Wir sind eine solidarische Stadt", schreibt Bürgermeisterin Thomassin auf Facebook, es sei sehr bewegend, zu sehen, wie viel Hilfe von allen Seiten käme. Die Stadt hat mithilfe von Spenden die Verteilung von Tablets und Computer an Schüler organisiert, damit wirklich alle am digitalen Fernunterricht teilnehmen können. In Apotheken wurde ein diskretes Alarmsystem für misshandelte Frauen eingerichtet. Die häusliche Gewalt hat seit Beginn der Ausgangssperre hier um 36 Prozent zugenommen.

Eine Truppe aus Freiwilligen, die selbst im Viertel wohnen, zieht jeden Tag von Sozialwohnung zu Sozialwohnung, um gespendete Essenspakete zu verteilen und auf diesem Weg auch einsame Alte und Erkrankte zu identifizieren. Noch aber kann niemand sagen, ob der Höhepunkt der Krise schon hinter ihnen liegt. "Werden wir genügend Kapazitäten haben, das alle weiterhin zu überstehen?", fragt Anouk Giana, die Direktorin für öffentliche Ordnung in Bondy. "Ich kann es Ihnen nicht sagen."

spiegel


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