Die total technisierte Gesellschaft braucht Romantik

  15 September 2015    Gelesen: 834
Die total technisierte Gesellschaft braucht Romantik
Mit Algorithmen und Apps wollen wir unser Leben verbessern. Doch dieser Optimierungswahn entzaubert unsere Welt.
Ein Gastbeitrag von Tim Leberecht
Die Quantifizierung des Lebens war ein großes Versprechen. Alles sollte besser werden. Die Arbeit, die Gesundheit und letztlich der Mensch. Apps und Programme können die Leistung, den Blutdruck und den Schlaf kontrollieren. Doch die Datafizierung des Arbeitsplatzes geht inzwischen weit über alles hinaus, was man mit herkömmlichen Techniken hatte messen können.

Soziometrische Applikationen wie der "Meeting Mediator" zeichnen auf, wer in Konferenzen das Gespräch dominiert, und sogenannte Mood oder Sentiment Analytics messen emotionale Schwingungen im Laufe des Arbeitstages. Das mag als digitaler Taylorismus anmuten, mit Datenanalysten als den Bürokraten der Netzökonomie, aber letztlich ist es eine konsequente Erweiterung der Maxime des modernen Managements: "Man kann nur managen, was man misst."

Algorithmen können alles. Aber sie kennen kein Mitgefühl
Der Widerstand allerdings wächst. Nicht nur, weil Geheimdienste die Messbarkeit zur Totalüberwachung benutzen. Auch Unternehmen wecken mit ihren Kontrollmechanismen Ängste und Zorn. Während des Geiseldramas in Sydney im letzten Winter erhöhte der Taxidienst Uber aufgrund gestiegener Nachfrage kurzfristig seine Preise in der Stadt. Die australische Öffentlichkeit war empört.

Ähnlichen Unmut erregte Facebook mit seinem personalisierten Jahresrückblick. Für jeden Nutzer stellt das soziale Netzwerk jedes Jahr eine Art "Best of" an Updates zusammen und präsentiert sie als farbenfrohes und fröhliches Album. Als der Amerikaner Eric Meyer seine persönlichen 2014-Highlights öffnete, sah er sich dabei plötzlich mit einem Foto seiner im vergangenen Jahr verstorbenen Tochter konfrontiert. Wie bei Ubers Fehler steckte auch hinter Facebooks unglücklicher Entscheidung ein Algorithmus. Der kann alles, nur kein Mitgefühl, und in einem Blog-Eintrag sprach Meyer daraufhin von "versehentlicher algorithmischer Grausamkeit".

Algorithmen sind die kleinen Katalysatoren der großen Datafizierung. Gemeinsam mit Big Data sind sie die Gestaltungsmittel unserer Zeit. Sie helfen, die Welt zu vermessen, zu begreifen und zu verwerten. Amazon und andere Online-Händler reduzieren uns auf eine Serie von Klicks in immer enger werdenden "Filterblasen", in denen intelligente "Empfehlungsmaschinen" uns das zu sehen geben, was wir schon einmal gesehen haben. Google beansprucht für sich die absolute algorithmische Wahrheit und beginnt Suchergebnisse nicht nur nach Popularität, sondern auch nach "Wahrhaftigkeit" zu ranken.

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