Das neue Normal

  19 Februar 2016    Gelesen: 1007
Das neue Normal
Permanent online, permanent verbunden – für viele ist Handyabstinenz schon heute die Ausnahme. Welche Folgen das für unseren sozialen Umgang miteinander hat, erforschen Peter Vorderer und Christoph Klimmt.
Smartphones und Tablets haben sich zu Universalwerkzeugen entwickelt, zu sozialen Universalwerkzeugen. Denn Online-Kommunikation durchzieht unseren gesamten Alltag. Blicken wir ins Morgen: Da denkt, fühlt, erlebt und handelt der Mensch im Wissen, permanent online, permanent verbunden zu sein – permanently online, permanently connected (kurz POPC). Für viele gilt das heute schon.

Wie aber verändert sich damit unser Lebensgefühl, wie Arbeit und Alltag? Was bedeutet es für innere Einkehr und Zuwendung nach außen, wenn online der Normalzustand wird und offline eine Art Notsituation (Funkloch! Akkuversagen!). Wie sich der vernetzte vom nicht vernetzten Menschen unterscheidet, wissen wir nicht. Dafür ist das Phänomen zu jung. Niemals zuvor in der Geschichte hat eine Technik so schnell vom Alltag Besitz ergriffen. Umso wichtiger ist es, plausible Folgen in den Blick zu nehmen – auch wenn dies im Moment nur auf Beobachtungen und Erwartungen basieren kann. Im folgenden Szenario konzentrieren wir uns ganz auf die Auswirkungen auf den Einzelnen.

Wie wir künftig Probleme lösen

1. Wissenszugang ersetzt Wissen: Wie viel jemand weiß, wird dank POPC zunehmend irrelevant. Ist doch der Zugriff auf anderswo gespeichertes Wissen und auf vertrauenswürdige Personen jederzeit und allerorts möglich. Damit relativiert sich unser Umgang mit Problemen, zum Beispiel das gründliche Einlesen in eine Materie oder das Zusammenstellen der richtigen Experten. Das stärkt das Vertrauen in die Gruppe, mit der ich online verbunden bin. Schwierige Fragen erscheinen weniger schwierig, wenn ein halbes Dutzend Experten per E-Mail oder Facebook binnen Sekunden um Rat gefragt werden kann.

2. Crowd-Befragung ersetzt Kreativität: Die permanente Vernetzung mit Freunden oder Bekannten steigert (theoretisch) auch das verfügbare Potenzial für Kreativität. Wenn 100 Menschen ihre Ideen äußern, steigt die Chance, dass eine brauchbare dabei ist. Darunter leiden könnte die Innovationskraft des Einzelnen, der, bevor er selbst grübelt, erst einmal routinemäßig die Schwarmintelligenz nutzt.

Peter Vorderer (56) leitet das Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Seit 2014 ist er Präsident des Weltverbandes der Kommunikationswissenschaftler (ICA). Christoph Klimmt (39) leitet das Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Er ist Mitherausgeber des Journal of Media Psychology. Ausführlich entwickeln die Autoren ihre Thesen gemeinsam mit 13 Kolleginnen und Kollegen in der Fachzeitschrift Publizistik.

3. Big Data ersetzt Intuition: Wie oft müssen wir uns für einen von vielen unterschiedlichen Wegen entscheiden! Die moderne Entscheidungspsychologie rät uns, in solchen Fällen dem Gespür und der Intuition zu vertrauen. Bald gibt es aber für alles Mögliche eine (wie auch immer zustande gekommene) "Datengrundlage". Geschäftsleute meinen zu wissen, wie Kunden sich entscheiden werden, Lehrkräfte, wie Schüler Aufgaben lösen, Politiker, was Bürger wollen. Da bedarf es keiner Intuition mehr, weil für scheinbar alles eine verlässliche Empirie existiert, die in bunten Grafiken ansprechend präsentiert wird. So gerät das Bauchgefühl als weicher Faktor in Misskredit.

4. Selbstverständlichkeit verdrängt Freude: Wenn digitale Techniken ständig mehr möglich machen, verändert sich vermutlich unsere Vorstellung davon, was eine gute Leistung, ein schöner Erfolg, ein außergewöhnliches Ergebnis ist. Und wir erwarten, dass sich gerade wiederkehrende Probleme effizient, geräuschlos und sofort lösen lassen. Bewertungen wie "Das ist mir gut gelungen!" oder "Toll, wie das geklappt hat!" weichen dem nüchternen Abhaken des Gelingens.

5. Erreichbarkeit ersetzt räumliche Nähe: Telefon und Computer haben geografische Distanzen überwunden. Das Leben im POPC-Modus aber hebt auch situationsbedingte Distanzen auf, sei es zwischen Partnern, Freunden oder Kollegen. So wird in Lebenslagen kommuniziert, die bislang als incommunicado galten: Die Mail per Smartphone während der Konferenz, die WhatsApp-Antwort in der Vorlesung, der diskrete Blick auf die smarte Armbanduhr am Restauranttisch – das sind mittlerweile typische Verhaltensweisen. Wir sind stets erreichbar und erwarten es auch von anderen. Das macht vor privaten Momenten nicht halt und dürfte über kurz oder lang unser Verständnis von Intimität verändern.

6. Konversationsfäden ersetzen Gespräche: Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen Kontakt und Nichtkontakt. Herkömmliche Gespräche und Telefonate haben Anfang und Ende. Nun verlaufen Konversationen im latenten Dauerzustand: immer wieder unterbrochen, immer wieder fortsetzbar. So entsteht das Gefühl, einen Kontakt jederzeit und überall (wieder)herstellen zu können. Das geht wohl auf Kosten von Geschlossenheit, Kohärenz und Effizienz – könnte aber ebenso das Gefühl von Verbundenheit und dauerhafter Gemeinsamkeit im Alltag stärken.

7. Unverbindlichkeit ersetzt Zuverlässigkeit: Zusagen zu Partys, Mitwirkung in Arbeitsgruppen, Hilfsangebote für Freunde lassen sich leicht per Handy erledigen – und auch schnell wieder zurücknehmen. Symptomatisch scheint die gesunkene Bereitschaft, sich auf Verabredungen festzulegen: "Lass uns noch mal mailen." Der Wunsch, "Optionen offenzuhalten", wächst. Für Pessimisten ist das ein Verlust von Loyalität und Verantwortungsbewusstsein; für Optimisten ein Gewinn an Autonomie und Flexibilität.

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