Bolsonaros Realitätsverlust

  21 Mai 2020    Gelesen: 731
Bolsonaros Realitätsverlust

Brasiliens Staatschef Bolsonaro will mit aller Macht zum Alltag zurückkehren, obwohl sich das Land zu einem globalen Zentrum der Corona-Pandemie entwickelt. Zehntausende Leben könnten auf dem Spiel stehen.

Immerhin trug er diesmal eine Maske. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro trat am Sonntag erneut vor Anhänger, die sich - dicht an dicht – vor dem Präsidentenpalast in der Hauptstadt Brasilia versammelt hatten. Seine Fans jubelten, der Staatschef schwärmte: Die Kundgebung sei ein "purer Ausdruck von Demokratie". Das Coronavirus werde man bald los sein: "Gratulation an uns alle."

Woraus Bolsonaro seine Zuversicht schöpft - darüber lässt sich nur rätseln. Am selben Tag, an dem er kollektive Glückwünsche aussprach, stieg die Zahl der Infektionsfälle im Land auf mehr als 230.000. Tags darauf überholte Brasilien dann Großbritannien als das Land mit den drittmeisten Ansteckungen weltweit. Nun hat es erstmals mehr als 1000 Tote binnen 24 Stunden gemeldet.

Brasilien ist dabei, sich zum nächsten globalen Zentrum der Pandemie zu entwickeln. Schon die offiziellen Zahlen verheißen Düsteres, das volle Ausmaß der Krise dürften sie aber nicht erfassen. Das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas testet bisher knapp viermal weniger als Italien oder Spanien. Manchen epidemiologischen Modellen zufolge könnte die tatsächliche Zahl der Fälle fünfzehnmal so hoch sein wie der offizielle Wert.

Berichte von Bestattern und medizinischem Personal legen nahe, dass deutlich mehr Menschen an den Folgen des Virus gestorben sind als bislang bekannt. In Städten wie dem tief im Regenwald gelegenen Manaus waren die Behörden gezwungen, Massengräber auszuheben. Tote werden in übereinander gestapelten Särgen begraben.

Am Mittwoch empfahl die brasilianische Regierung offiziell die Wirkstoffe Hydroxychloroquin und Chloroquin zur Behandlung selbst leichter und mittelschwerer Fälle. Wie aus den veröffentlichten Richtlinien des Gesundheitsministeriums hervorgeht, sollen Ärzte die Malaria-Medikamente künftig ab dem Auftreten von Corona-Symptomen verschreiben.

Bolsonaro tat das Coronavirus anfänglich als "kleine Grippe" und "Fantasie" ab. Er badete in der Menge seiner Anhänger, schoss Selfies mit ihnen. Sein jüngster Auftritt vor dem Präsidentenpalast fiel da vergleichsweise zurückhaltend aus: Fotos mit ihm gab es nur für eine Handvoll Kinder, die aus der Menge geholt wurden.

Inzwischen ist das Leugnen einer Mischung aus Apathie und mutwilliger Inkaufnahme gewichen. "Es tut mir leid. Was wollen Sie, dass ich tue?", kommentierte er die jüngste Entwicklung der Krise. Stattdessen dringt er darauf, die Beschränkungen, die von verschiedenen Städten und Bundesstaaten verfügt wurden, wieder aufzuheben. Fitnessstudios, Friseurläden und andere Geschäfte sollen nach Bolsonaros Willen schnellstmöglich wieder öffnen.

"Das Gesundheitsministerium ist ein Schiff, das seinen Kurs verloren hat"
Hinzu kommt das Chaos in der Regierung des rechtsextremen Präsidenten:

Am Freitag trat Gesundheitsminister Nelson Teich zurück, nachdem er einer Forderung Bolsonaros nicht nachgekommen war. Teich weigerte sich, die Vorschriften für die Anwendung von Chloroquin zu lockern, um eine Behandlung von Corona-Patienten mit dem Wirkstoff zu ermöglichen. Behörden wie die amerikanische FDA warnen, dass zu den Nebeneffekten des Mittels auch Herzrhythmusstörungen gehören können. Bolsonaro preist Chloroquin dennoch seit Längerem an.

Mit Teich ist schon der zweite Gesundheitsminister seit Beginn der Coronakrise sein Amt los. Mitte April hatte Bolsonaro Teichs Vorgänger Luiz Henrique Mandetta wegen Differenzen über den richtigen Umgang mit der Pandemie gefeuert. Der Arzt hatte sich für einen strikten Kurs mit umfangreichen Kontaktsperren stark gemacht und dafür viel Zuspruch aus der Bevölkerung bekommen.

In einem Anfang der Woche veröffentlichten Interview mit der Zeitung Tageszeitung "Folha de São Paulo" gab sich Mandetta pessimistisch. "Das Gesundheitsministerium ist ein Schiff, das seinen Kurs verloren hat", sagte der Ex-Gesundheitsminister.

Brasilien habe erst zwei von fünf Monaten hinter sich. Mandetta rechnet damit, dass sich die Lage erst im September wieder zu normalisieren beginnt. Einem Bericht der Zeitung "O Globo" zufolge schätzt Mandetta, dass die Pandemie insgesamt bis zu 150.000 Brasilianer das Leben kosten könnte.

Bolsonars Anhänger skandieren "Chlo-ro-quin"
Bolsonaro scheint davon unbeirrt. Die Brasilianer wollten vor allem "Freiheit und Demokratie" und dass die Wirtschaft schnellstmöglich wieder Fahrt aufnehme, sagt er. Sein Kurs, so will der Staatschef es darstellen, entspreche dem Willen der Bevölkerung.

Umfragen legen etwas anderes nahe: Einer jüngsten Erhebung zufolge waren zwei Drittel der Brasilianer der Meinung, dass Kontaktsperren notwendig seien, um das Virus einzudämmen.

Die Anhänger des Präsidenten wären damit in der Minderheit. Diese ist umso lauter und scheut - erwartungsgemäß – größere Zusammenkünfte in der Öffentlichkeit nicht. "Wir wollen arbeiten", skandierten sie am Sonntag vor dem Präsidentenpalast in Brasilia. Und: "Chlo-ro-quin".

spiegel


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