Vergangenen Sonntag trat Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro vor seine Anhänger in der Hauptstadt Brasília. Er verkündete, die Kundgebung sei ein "purer Ausdruck von Demokratie" und das Coronavirus werde man bald los sein: "Gratulation an uns alle."
Eine Woche später ist das eingetreten, was Experten befürchteten: Die Zahl der Coronavirus-Infektionen steigt weiter rasant. Das Land liegt jetzt mit Blick auf die Zahl der Gesamtinfizierungen hinter den USA auf dem zweiten Platz weltweit, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Südamerika mittlerweile als neues Epizentrum der Pandemie ein.
Nach Angaben des brasilianischen Gesundheitsministeriums wurden in dem südamerikanischen Land bis Freitag mehr als 330.000 Infektionen registriert, mehr als 21.000 Menschen starben. Damit überholte Brasilien Russland, das nun mit rund 326.000 registrierten Infektionen auf Platz drei liegt.
Binnen 24 Stunden starben in Brasilien mehr als tausend Menschen nach einer Infektion mit dem neuartigen Erreger. Die Zahl der registrierten Neuinfektionen lag bei 20.803 binnen 24 Stunden.
Südamerika ist neues Corona-Epizentrum
Die WHO betrachtet die steigende Zahl der Coronavirus-Infektionen in Südamerika mit Sorge. Der Kontinent sei "zu einem neuen Epizentrum der Krankheit geworden", sagte WHO-Experte Michael Ryan am Freitag in Genf. Dabei sei Brasilien "eindeutig am stärksten betroffen".
Anders als in Europa und den USA sterben in Brasilien nicht nur überwiegend ältere Menschen nach einer Infektion mit dem Virus. Viele junge Brasilianer sind aus Geldmangel gezwungen, trotz der Infektionsgefahr arbeiten zu gehen und stecken sich dabei an.
Brasiliens Bevölkerung ist im Schnitt relativ jung. Deshalb sei es normal, dass die Zahl der unter 60-jährigen Todesopfer höher sei, sagte Mauro Sanchez, Epidemiologe an der Universität Brasília. "Das Perverse ist, dass sich viele Menschen dem Virus aussetzen, weil sie keine andere Wahl haben."
Hohe Dunkelziffer und Massengräber
Schon die offiziellen Zahlen in Brasilien verheißen Düsteres. Sehr wahrscheinlich ist das Ausmaß der Krise aber viel größer. Das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas testet bisher knapp viermal weniger als etwa Italien oder Spanien. Manchen epidemiologischen Modellen zufolge könnte die tatsächliche Zahl der Fälle fünfzehnmal so hoch sein wie der offizielle Wert.
Berichte von Bestattern und medizinischem Personal legen nahe, dass deutlich mehr Menschen an den Folgen des Virus gestorben sind als bislang bekannt. In Städten wie dem tief im Regenwald gelegenen Manaus waren die Behörden gezwungen, Massengräber auszuheben. Tote werden in übereinander gestapelten Särgen begraben.
Am Mittwoch empfahl die brasilianische Regierung offiziell die Wirkstoffe Hydroxychloroquin und Chloroquin zur Behandlung leichter und mittelschwerer Fälle. Wie aus den veröffentlichten Richtlinien des Gesundheitsministeriums hervorgeht, sollen Ärzte die Malaria-Medikamente künftig ab dem Auftreten von Corona-Symptomen verschreiben.
Eine aktuelle Studie kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass sich die Sterblichkeitsrisiko durch die Einnahme des Medikamentes sogar noch erhöht. Seit Wochen warnen Ärzte davor, Covid-19-Patienten damit zu behandeln. Auf der Kundgebung vor einer Woche mit Präsident Bolsonaro skandierten seine Anhäger: "Chlo-ro-quin". Bolsonaros Gesundheitsminister Nelson Teich, der vor einer Woche entlassen worden war, hatte vor der Behandlung mit dem Malariamittel gewarnt.
Ermittlungen gegen Bolsonaro und ein peinliches Video
Brasiliens Präsident ist nicht nur wegen seiner lockeren Corona-Politik innenpolitisch unter Druck: Hinzu kommen Ermittlungen, unter anderem zur Einflussnahme auf die Polizei. Ein Richter des Obersten Gerichts veröffentlichte nun ein Video, dass weitere schmutzige Details enthüllt. Die Videoclips wurden bereits in Ausschnitten in den Medien gezeigt. Darin ist Bolsonaro zu hören, wie er Gouverneure unflätig beschimpft, Bildungsminister Abraham Weintraub zur Inhaftierung von Richtern des Obersten Gerichts aufruft.
Auch der Bolsonaro-treue Umweltminister Ricardo Salles ist darin zu sehen. Er sagt wörtlich: "Wir müssen diesen ruhigen Moment der Berichterstattung in der Presse ausnutzen und während sie nur über Covid-19 sprechen, neue Regeln durchsetzen und Normen vereinfachen." Salles bezieht sich damit unter anderem auf das Vorhaben, Bergbau und Landwirtschaft im Amazonas-Regenwald zu legalisieren.
Die Abholzung des brasilianischen Regenwaldes hat sich während der Corona-Pandemie noch beschleunigt, wie eine Studie der Umweltorganisation WWF zeigt. Während die Umweltbeamten in ihrer Arbeit in Brasilien und in anderen Ländern durch die Pandemie stark eingeschränkt werden, machen illegale Holzfäller und Plünderer anderer Ressourcen einfach weiter. Vielerorts nutzen die Menschen den Wald auch aufgrund wegbrechender Jobs als Einnahmequelle.
spiegel
Tags: