Das Land gärt, es ist in Bewegung, es leidet
Die Stimmung ist aufgeheizt, alle wissen, dass eine Lösung her muss. Doch wie diese Lösung am Ende aussehen soll, sei es nun durch die Einführung einer Obergrenze oder durch die bessere Absicherung der EU-Außengrenzen, scheint niemand zu wissen. Auch Merkel nicht. Die angekündigte Zwischenbilanz ihrer Flüchtlingspolitik hat sie vertagt.
Ist Merkel die "Kanzlerin der leeren Hände?", fragte daher Frank Plasberg bei "Hart aber fair" seine Gäste: CDU-Politiker Jens Spahn, Wilfried Scharnagl, Ex-Chefredakteur des "Bayernkurier" und Weggefährte von Franz Josef Strauß, SPD-Mitglied Gesine Schwan, Autor und Verleger Wolfram Weimer sowie die Parteivorsitzende der Linken, Katja Kipping.
Zehn Minuten lang reflexartige Empörung
Gleich zu Beginn der Sendung ist jedoch zunächst erneut Clausnitz das Thema. Die Runde ist sich schnell einig, dass das, was in der sächsischen Kleinstadt geschah, eine Schande ist. Es fallen die gewohnten reflexartigen Erklärungen von der Empörungsstange, wenn es darum geht, ob es denn nun Menschen oder doch eher Verbrecher sind, die in Clausnitz gepöbelt und in Bautzen Feuer gelegt haben.
Es ist das typische Sich-Entlanghangeln an Begrifflichkeiten. Sigmar Gabriel gebrauchte vor geraumer Zeit die Bezeichnung "Pack", CDU-Mann Spahn kann nicht verstehen, dass diese Leute "in den Spiegel gucken können". Gesine Schwan ist der Meinung, dass man diese Taten zwar verurteilen muss, aber dass die Verursacher dennoch Menschen sind.
So wird zehn Minuten lang darüber lamentiert, welche politisch korrekte Bezeichnung all dem zugeordnet werden kann. Dabei wird das eigentliche Thema, nämlich das Anwachsen brauner Gewalt, beinahe aus den Augen verloren. Gut, dass Katja Kipping deshalb noch einmal betont, dass die CDU in Sachsen die wachsende rechte Szene weitestgehend ignoriert hat, anstatt den Vorzeichen entschlossen entgegenzuwirken.
Die Flüchtlingskrise ist auch eine Gesellschaftskrise
Jeden Tag machen sich nach wie vor Tausende Flüchtlinge auf den Weg nach Deutschland. Wenn sich die Parteien aber nur gegenseitig den schwarzen Peter zuschieben: Wie soll es da gelingen, die Flüchtlingskrise auch nur ansatzweise in geregelte Bahnen zu lenken?
Schon bei der regionalen Verteilung geraten die einzelnen Länder aneinander: "Wir haben in Bayern den höchsten Ausländeranteil überhaupt", betont CSU-Politiker Scharnagl, der zwar findet, dass "die CDU und die CSU keine Schuld an der Entwicklung in diesem Land haben", gleichzeitig aber betont, dass die "Politik der Kanzlerin hinten und vorne nicht mehr zusammenpasst".
Wolfram Weimer aber bringt es auf den Punkt: "Die Lage ist bitterernst!" Und das sei sie nicht erst seit den Vorfällen in Sachsen. "Das Land gärt, es ist in Bewegung, es leidet." Die Flüchtlingskrise sei nicht nur eine Staats- und Regierungskrise, sie sei auch eine Gesellschaftskrise, die eben nicht nur im TV und in den Medien stattfinde, sondern sie sei, wie Spahn ergänzt, seit Langem die erste Krise, "die alle spüren, und über die alle reden".
Und genau das ist, zumindest in der Union, eines der größten Probleme: dass zu viel geredet und zu wenig umgesetzt wird. 160.000 Flüchtlinge sollen verteilt werden, 700 werden verteilt, um nur eines davon zu benennen.
Am Solidaritätsbegriff scheiden sich die Geister
Stichwort: Solidarität. Auch hier kommen die Gäste auf keinen gemeinsamen Nenner. Möglicherweise, weil der eine mit dem Wort schlichtweg nichts anfangen kann und der andere seine eigene Vorstellung davon hat. Während Kipping findet, "Solidarität gehöre nicht zum Umgangston Europas", widerspricht Spahn ihr entschieden: "Aber ein Land, das so viel hilft, ist doch solidarisch! Wir haben gerade eine Million aufgenommen."
Und wie schaut der Rest Europas auf Deutschland? Scharnagl meint zu wissen: Obwohl die Bundesregierung "solidarisch über jedes Maß hinaus" sei, stehe "Deutschland allein auf weiter Flur". Er ist der Meinung, ein Land, das sagt, Deutschland solle die Flüchtlinge nehmen, die alle anderen nicht nehmen, "das will den Untergang dieses Landes".
Wenn es aber keine freiwillige Solidarität in Europa gibt, wie bekommen wir dann die Flüchtlingskrise in den Griff? Obergrenzen? Kontingente? Noch mehr Milliarden an Erdogan? Grenzen dichtmachen?
Schon jetzt ist die EU, wie Wolfram Weimer sagt, "schwach und zerstritten". Während Brüssel "Gift und Galle spuckt", kommen trotz diverser Treffen und Gipfel wieder deutlich mehr Flüchtlinge in Griechenland an. Merkel setzt darauf, die EU-Außengrenzen zu sichern, aber sie setzt auch auf Erdogan.
Erdogan als zweifelhafter Retter in der Not
Und das, so sind sich Plasbergs Gäste überwiegend einig, birgt eine große Gefahr: weil man auf einen "Despoten" setzt und einen Mann zum "Türsteher Europas" macht, der aus strategischen Gründen Kurden tötet. Folglich klüngele Merkel nicht nur mit einem "Kriegstreiber", sondern falle den Kurden in den Rücken. Beim letzten Gipfel waren sie nicht vertreten.
Fest steht: Es muss eine europaweite solidarische Lösung geben. Die Flüchtlinge müssen verteilt werden. Nur wie? Und wohin? Diese Fragen bleiben offen, und so beruhigt es auch wenig, wenn Gesine Schwan gutmütig sagt, dass "wir aus der Flüchtlingskrise eine Wachstumschance machen müssen".
Was die Menschen vermissen, so Plasberg, ist der "Ansatz eines realistischen Plans". Kommt man ins Schleudern, wenn man Merkels Kurs der Hoffnung folgt? Und kann Erdogan ein Großteil dieser Hoffnung sein? "Ein Despot, der Deutschland und Europa erpresst, einer der nur noch mehr Bühne will und von einem großosmanischen Reich träumt", einer, der in der Kurdenfrage auf den IS baut – soll der unser Mann sein?
Unterstützung mit Geld erkaufen?
Weimer sagt entschieden: "Wer Krieg gegen die Kurden führt, der kann weder an einer friedlichen noch überhaupt an einer Lösung interessiert sein." Hochnotpeinlich versucht Merkels Mann, Spahn, sicherlich auch mit Blick auf die Landtagswahlen am 13. März, die Situation zu entschärfen, indem er darauf hinweist, dass die Türkei Nato-Partner sei. Er betont aber: "Ich hab nichts an Erdogan schönzureden. An Erdogan ist nicht alles super!"
Stimmt: Wenn Leute, die für Pressefreiheit kämpfen, im Folterkeller landen, ist das nicht so "super". Zu hoffen, die Türkei würde zur Lösung des Problems beitragen, ist nicht nur "illusionär", wie Schwan es nennt, sondern auch naiv.
Aber warum nehmen wir die Flüchtlingskrise nicht in die eigene Hand? Warum geben wir Ländern wie Portugal und Spanien, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, nicht Geld? Warum helfen wir denen nicht? Ist es polemisch, wenn wir uns Solidarität kaufen, will Plasberg daraufhin wissen.
Während Schwan den "entscheidenden Schlüssel" zur Lösung des Problems in der "Zurückgewinnung der Kontrolle" sieht, spricht Kipping sich erst einmal für eine fast schon blümsche Sozialgarantie aus: soziale Unruhen befrieden. Dem Volk sagen, dass die Renten nicht gekürzt werden.
Der 13. März wird schwere Erschütterungen hervorrufen
Zum Schluss kommt sie dann noch einmal auf, die Frage nach der Obergrenze und wer Merkel zu einer Kursänderung bringen kann. Scharnagl hat eine Idee: Merkel könnte vor die Kamera treten und sagen: Wir haben die Grenzen aufgemacht. Wir haben vielen geholfen, aber jetzt müssen wir wieder zu geordneten Grenzen zurückfinden. Dass eine solche Ansage einen "Wandel" schaffen könnte, daran glaubt der einstige Strauß-Gefährte fest.
Wie es in der Flüchtlingsfrage und auch mit der Kanzlerin weitergeht, wird sich spätestens am 13. März in drei Bundesländern entscheiden. Das ist der Tag, auf den wir zulaufen. Weimers Prognose: Dieser Tag wird eine "schwere Erschütterung" hervorrufen. Es ist der Tag, an dem "unsere Volksparteien abgestraft werden".
Quelle: WELT.DE