Im Gran-Sasso-Untergrundlabor in Italien finden die präzisesten Messungen weltweit statt, um dunkle Materie aufzuspüren. Nun hat ein 163-köpfiges Forscherteam dort in einem Experiment eine ungewöhnlichen Häufung von Teilchenkollisionen registriert.
Zahlreiche englischsprachige Medien griffen die Nachricht auf, etwa die "BBC" und die "New York Times". Der Fund erzeugt Aufmerksamkeit, weil auch die Forscher noch rätseln, was es mit dem Messergebnis genau auf sich hat.
Die Daten haben die Wissenschaftler auf einem Symposion vorgestellt und für die Fachwelt als PDF hochgeladen. Sie halten drei Erklärungen für denkbar:
Verursacht haben könnte das ungewöhnliche Muster in den Detektordaten ein noch nie nachgewiesener, extrem leichter Partikel, ein Axion. Der Fund wäre eine Sensation.
Vorstellbar ist auch, dass das Signal durch bisher unbekannte Eigenschaften von Neutrinos, sogenannten Geisterteilchen, ausgelöst wurde. Das würde physikalische Theorien auf den Kopf stellen.
Vielleicht ist das Signal aber auch vollkommen unspektakulär und durch eine seltene, radioaktive Substanz in der Detektorflüssigkeit entstanden.
"Die Entdeckung wäre phänomenal"
Dass Axionen existieren, wurde bislang nur theoretisch vorhergesagt, nachgewiesen wurden sie noch nie. Ein direkter Beleg für ihre Existenz würde jahrzehntealte physikalische Theorien über Materie und die Zusammensetzung der Dinge in der Welt bestätigen.
Zur Einordnung der Bedeutung eines solchen Fundes: 2013 bekamen Forscher für die Vorhersage und den Nachweis eines anderen Teilchens, des Higgs-Bosons, den Physik-Nobelpreis.
"Die Entdeckung eines neuen Partikels wäre phänomenal", sagte auch Elena Aprile von der Columbia University der "New York Times". Aprile leitet das Forschungsprojekt seit seinem Bestehen 2002.
Zwar wären von der Sonne ausgehende Axionen kein direkter Beleg für dunkle Materie, aber zumindest ein Hinweis, dass der Teilchentyp häufiger im Universum vorkommt.
Vorstellbar wäre dann, dass Axionen bereits im frühen Universum entstanden sind und dort bis heute die Gravitation etwa von Sternen beeinflussen - eine Eigenschaft, die dunkler Materie zugeschrieben wird. Forscher gehen seit Jahrzehnten davon aus, dass es, neben der bekannten Materie, unbekannte Teilchen im Universum gibt, die die Bewegung der Gestirne mitbestimmen.
Mehr Ereignisse als erwartet
Die ungewöhnlichen Muster im XENON1T-Experiment hatten die Wissenschaftler in einem Versuch zwischen 2016 und 2018 erzeugt. Dabei installierten sie einen Tank mit 3,2 Tonnen purem Xenon, ein farbloses und geruchloses Gas. Traf ein Partikel auf die Versuchsinstallation, gab das Xenon Elektronen ab und erzeugte dabei kleine Lichtblitze.
Allerdings geschah das immer wieder auch, ohne dass ein ungewöhnliches Teilchen auf den Versuchsaufbau traf. Denn im 3000 Meter hohen Gran-Sasso-Massiv gibt es geringe Ströme von längst bekannten Partikeln.
Die Forscher ermittelten also, mit wie vielen Treffern in einem bestimmten Energiebereich zu rechnen war und kamen für ihren Versuch auf 232 Ereignisse. Tatsächlich wurden aber 285 registriert - 53 mehr als erwartet.
Das ist ein Hinweis auf bislang unbekannte Teilchen, aber ein zu geringer Unterschied, um deren Entdeckung zu vermelden. Es ist generell schwierig, die Trefferzahl superleichter Teilchen korrekt vorherzusagen.
Unstimmigkeiten in der Axion-Theorie
"Wenn sich herausstellt, dass das Signal tatsächlich von einem neuen Teilchen kommt, dann wäre das ein Durchbruch, auf den wir 40 Jahre gewartet haben. Dann kann man die Bedeutung der Entdeckung nicht hoch genug ansehen", sagte Adam Falkowski, Teilchenphysiker an der Universität Paris-Saclay in Frankreich, dem "Quantamagazine".
Falkowski war nicht an dem Experiment beteiligt. Er verweist auch darauf, dass bei Entdeckungen wie der aktuellen oft die langweilige Antwort die richtige ist.
Forscher bemängeln bei der Axion-Theorie etwa, dass besonders heiße Sterne mit der Zeit abkühlen müssten, wenn sie die Teilchen ständig ausscheiden würden. Das sei in der zu erwartenden Form allerdings nicht der Fall.
Geduld ist gefragt
Auch die Vermutung, dass Neutrinos das Muster erzeugt haben, lässt sich nicht abschließend belegen oder widerlegen. Unzählige dieser Teilchen passieren jede Sekunde unbemerkt unseren Körper und unsere Umwelt.
Falls sie die Ursache waren, müssten sie ein kleines Magnetfeld erzeugen, das Forschern bislang verborgen geblieben ist. Fachleute müssten sich neue physikalische Theorien überlegen, wie diese Teilchen mit ihrer Umwelt agieren und wie das mit bisherigen Beobachtungen zusammenpasst.
"Trotz aller Aufregung über die Daten, müssen wir nun geduldig sein", zitiert das "Quantamagazine" den Physiker Luca Grandi von der University of Chicago, einen der Leiter des Experiments. Weitere Versuche mit einem neuen Xenon-Detektor müssten zunächst ausschließen, dass der Stoff Tritium für die Signalhäufung verantwortlich ist.
Tritium ist ein Abkömmling von Wasserstoff und kommt natürlich in kleinen Mengen vor. Der Stoff zerfällt radioaktiv und könnte auch im Xenon-Tank des Experiments enthalten gewesen sein. Ob er das Muster erzeugt hat, wollen die Forscher in der zweiten Jahreshälfte 2020 prüfen.
Das "Sciencemag", die Nachrichtenseite des Fachjournal "Science", fasst die Lage so zusammen: "Die Signale reichen nicht aus, um den Nachweis eines neuen Teilchens zu verkünden, aber für hochgezogene Augenbrauen."
spiegel
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