Psychotherapie digital - funktioniert das?

  09 Juli 2020    Gelesen: 2778
  Psychotherapie digital - funktioniert das?

Der Markt für mentale Gesundheit im Netz wächst. Doch nicht alle Anwendungen sind ohne Weiteres für jeden geeignet - wenn es schlecht läuft, machen sie es sogar schlimmer.

Von Stressabbau bis zur Hilfe bei ernsthaften Erkrankungen wie Angststörungen: Der Markt an Apps und Online-Angeboten rund um die psychische Gesundheit wächst. Fachleute sehen darin Chancen - aber auch Risiken. Und für Nutzer stellt sich die zentrale Frage: Welche Anwendungen sind gut und verlässlich?

Zunächst kommt es darauf an, von welchem Angebot die Rede ist: Es gibt Anwendungen zur Förderung der seelischen Gesundheit - die also Menschen dabei helfen sollen, psychisch im Gleichgewicht zu bleiben. Dann gibt es Programme, die Informationen zu bestimmten Erkrankungen vermitteln sowie Anwendungen zur Selbsthilfe, die etwa erkrankte Menschen dabei unterstützen, ihren Tag besser zu strukturieren.

Schließlich gibt es internetbasierte Programme, die an der kognitiven Verhaltenstherapie ausgerichtet sind - diese können bei Patienten mit einer psychischen Erkrankung eingesetzt werden.

Mittlerweile seien für eine Vielzahl psychischer Störungen Programme entwickelt worden, die meisten für die Behandlung von Depressionen und Angststörungen, sagt Iris Hauth, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

Therapeutische Anwendungen müssen geprüft sein

Solche digitalen Interventionen müssten bestimmte Qualitätskriterien erfüllen, ihre Wirksamkeit müsse nachgewiesen sein, betont die Expertin. "Ähnlich wie dies bei neuen Medikamenten oder Psychotherapiemethoden gefordert ist."

Ihre Fachgesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren an der Entwicklung von Kriterien für derartige Angebote beteiligt, die auch E-Mental-Health-Anwendungen genannt werden - Health ist das englische Wort für Gesundheit. Der Markt für solche Angebote wachse, beobachtet Hauth - und er müsse strukturiert werden. Denn er sei für Laien und Fachleute gleichermaßen unübersichtlich.

Bundesinstitut arbeitet an Verzeichnis für Apps

Einen entsprechenden Versuch unternimmt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM. Die Behörde arbeitet an einem Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen, kurz DiGA.

Bevor Apps und Online-Programme in diesem Verzeichnis erscheinen, werden sie unter anderem auf Datenschutz, Funktionstauglichkeit und ihren tatsächlichen medizinischen Nutzen geprüft - seit Mai können Hersteller ihre Produkte einreichen. Ab Ende August 2020 könnten erste Anwendungen aufgelistet sein, teilt das Bundesinstitut mit.

Sind Gesundheitsapps in dem BfArM-Verzeichnis gelistet, können Ärzte sie verschreiben und die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt die Kosten. So sieht es das Digitale-Versorgung-Gesetz vor. Das sei ein wichtiger erster Schritt in Richtung Transparenz und Qualität, sagt Iris Hauth. Betroffene, Ärzte und Psychologen bekämen so einen besseren Überblick.

Allerdings sagt die Ärztliche Direktorin und Chefärztin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses Berlin-Weißensee auch: Entscheidend seien die Kriterien, die über Wirksamkeit und Patientensicherheit einer App entscheiden. Und diese seien noch nicht klar festgelegt.

Auch Prof. Ulrich Hegerl von der Deutschen Depressionshilfe sagt: "Das Register kann in jedem Fall einen Mehrwert bieten - wenn die Evidenzlage sorgfältig geprüft wird."

Nicht alles kommt von Fachleuten

Im Idealfall schützt das Register Betroffene vor Programmen, die ihren Zustand eher verschlechtern statt verbessern. "Es gibt einige Anwendungen, die eindeutig nicht von Fachleuten gemacht wurden: Da werden depressive Erkrankungen mit Reaktionen auf schwierige Lebensumstände verwechselt oder da wird wegen dem Gefühl der Erschöpfung mehr Schlaf empfohlen - dabei ist das meist kontraproduktiv", erklärt Hegerl.

Prinzipiell raten Fachleute eher zu professionell begleitenden Angeboten. Denn Studien zeigten, dass die im Vergleich am wirksamsten sein und auch die geringste Abbruchrate haben.

Zuerst kommt die Diagnose

Wer psychische Probleme hat, sollte also immer einen Psychiater oder Psychotherapeuten konsultieren. Denn eine Diagnostik ersetzten die Anwendungen nicht, sagt Iris Hauth. "Diese sollte im persönlichen Gespräch oder zumindest per Videochat erfolgen." Erst wenn die Diagnose feststehe, könne man Patienten ein passendes Online-Angebot zur Unterstützung vorschlagen.

Aus diesem Grund sieht Ulrich Hegerl unbegleitete Angebote bei schweren psychischen Erkrankungen kritisch. "Wenn jemand, der eine schwere Depression hat, denkt, er könne sich dadurch selber helfen - das kann schlimmstenfalls lebensgefährlich sein, wenn sich etwa suizidale Krisen entwickeln und die Anwendung das nicht erkennt." Solche Zuspitzungen zu bemerken, ist darum ein wichtiges Kriterium, das Apps mit therapeutischen Ansätzen erfüllen sollten.

Selbsthilfe-Tool vorübergehend frei zugänglich

Die Deutsche Depressionshilfe hat das kostenlose Online-Angebot iFightDepression mitentwickelt. Dieses Selbstmanagement-Tool für Menschen mit leichten Depressionen ist eigentlich nicht unbegleitet zugänglich - nur Ärzte oder psychologische Psychotherapeuten, die eine Schulung zum Umgang mit diesem Tool absolviert haben, können normalerweise den Zugang herausgeben.

In der Corona-Krise hat man es aber geöffnet, sodass Nutzer sich zurzeit auch ohne Freigabe eines Arztes oder Psychotherapeuten anmelden konnten. So seien 15.000 bis 20.000 Anmeldungen hinzugekommen, sagt Hegerl. Der freie Zugang ist allerdings den besonderen Umständen geschuldet und soll kein Dauerzustand sein. "Im Laufe des Sommers wird er wieder beschränkt."

Für wen die Angebote taugen - und für wen nicht

Natürlich setzen digitale Angebote eine gewisse Affinität zum Internet voraus - insofern sind sie nicht für jeden etwas. Zumal etwa Menschen, die sozial isoliert leben, besonders auf einen persönlichen Kontakt zum Therapeuten angewiesen sind.

Es gibt aber auch anders gelagerte Fälle. Wer sich schämt, zu einem Therapeuten zu gehen, oder Angst davor hat, für den könnten E-Mental-Health-Anwendungen oder Video-Chats die Hemmschwelle entscheidend senken, erläutert Iris Hauth. Auch wer beruflich viel unterwegs ist oder an seinem Wohnort schlecht mit Fachpraxen versorgt ist, könnte davon profitieren.

Apps also als Überbrückung für die mitunter monatelange Wartezeit auf einen Therapieplatz? Das sieht Ulrich Hegerl eher kritisch, zumindest bei mittelschweren bis schweren Depressionen: Einen depressiven Menschen könne das leicht überfordern und in eine noch größere Verzweiflung stürzen, sagt er.

Kontaktbeschränkungen, berufliche Sorgen, Urlaub gestrichen: Die Auswirkungen der Corona-Krise können Menschen psychisch belasten. Möglicherweise möchte man auch eine Therapie beginnen - ohne dabei mit anderen Menschen persönlichen Kontakt zu haben.

Die Fachgesellschaft DGPPN hat eine Übersicht mit möglicherweise hilfreichen Angeboten erstellt. Darunter sind Selbsthilfeprogramme, Informationsportale sowie kostenlose Hotlines für Beratungen am Telefon. Bessern sich die Probleme nicht, oder hat man das Gefühl, tatsächlich psychisch erkrankt zu sein, sollte man sich aber stets fachlichen Rat einholen und eine Diagnose erstellen lassen.

Quelle: ntv.de, Tom Nebe, dpa


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