Es dauerte fast 100 Tage, bis in Afrika 100.000 Corona-Fälle registriert waren. Es dauerte 18 weitere Tage, bis es 200.000 waren, 20 weitere, bis es 400.000 waren. Am 8. Juli wurde die Marke von 500.000 registrierten Infektionen überschritten.
Mehr als ein Drittel aller afrikanischen Länder haben ihre Fallzahlen im vergangenen Monat verdoppelt. Und die Dunkelziffer wird extrem viel höher sein, da in den meisten Ländern eher wenig getestet wird. Die Mortalitätsrate ist bisher vergleichsweise gering, wahrscheinlich auch wegen des niedrigen Durchschnittsalters in den Ländern.
Umso größer ist aber die Sorge, dass andere todbringende Krankheiten, wie Malaria, Tuberkulose oder HIV wegen der Pandemie nicht mehr ausreichend behandelt werden können und so zu vielen Todesfällen führen.
Aus Sicht von Helfern und Experten vor Ort, wird es in Afrika nun immer wichtiger, die Menschen weiter von der Notwendigkeit von Gesundheits- und Behandlungsmaßnahmen zu überzeugen. Ähnlich wie in Europa und den USA - nur oftmals unter erschwerten Bedingungen. Die Notfallkoordinatorin der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF - Médecins Sans Frontières), Karline Kleijer, kennt sich mit Seuchenbekämpfung aus.
SPIEGEL: Im Juni endete im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRC) der zweittödlichste Ebola-Ausbruch der Geschichte. 3463 Menschen infizierten sich, 2280 starben. Es dauerte fast zwei Jahre, das Virus einzudämmen, obwohl es einen Impfstoff und ab einem gewissen Zeitpunkt auch wirksame Behandlungsmethoden gab. Warum hat das so lange gedauert?
Karline Kleijer: Wir hatten es mit einem Ausbruch in einem Land zu tun, das es kaum schafft seiner Bevölkerung ein funktionierendes Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen. Eine Region, die sich im Kriegszustand und in Opposition zur Regierung befindet. Das Vertrauen in die Regierung und in Fremde ist extrem gering.
SPIEGEL: Das führte zu Gewalt. Warum gelang es der Regierung nicht, trotz großzügiger Spenden und Hilfsmaßnahmen aus dem Ausland, den Ausbruch effektiv zu bekämpfen?
Kleijer: Es marschierten Regierungsleute und die internationale Gemeinschaft in diese von Misstrauen geprägte Region ein, in der es viele Rebellengruppen gibt, wo die Leute an Malaria, Masern und Unterernährung sterben. Eine Invasion reicher Menschen, die der Bevölkerung sagten, sie hätten ein Ebola-Problem, mit großen Mengen Geld um sich warfen und den Menschen zu verstehen gaben: Wir helfen dir nicht bei Malaria, wir helfen dir nur bei Ebola. Es gab von Anfang an keine Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung. Das Gesundheitsministerium hat die lokalen Gemeinschaften weder bei der Erarbeitung noch bei der Umsetzung der Strategie genug einbezogen.
SPIEGEL: Auch in Europa klagen nun Menschen, ihnen würden Maßnahmen aufgezwungen.
Kleijer: Es ist für mich sehr interessant zu beobachten, wie Menschen in Europa mit dem Covid-19-Ausbruch umgehen. Wie Regeln und Verordnungen entstehen, und wie diese zu Problemen mit der Bevölkerung führen. Wir haben in Europa alles Geld in der Welt, wir haben sehr gut entwickelte Infrastrukturen, funktionierende Regierungen und Managementstrukturen und trotzdem gibt es große Probleme, die Bevölkerung bei der Stange zu halten. Sie können sich vorstellen, wie schwer das in der DRC war, wo die Situation in allen Belangen extremer ist.
SPIEGEL: Welche Lektionen müssen gelernt werden aus der Ebola-Bekämpfung in der DRC für den Umgang mit der Corona-Pandemie?
Kleijer: Die Bevölkerung muss mit einbezogen werden. Das ist das Wichtigste. Und da macht es keinen Unterschied, ob wir in Deutschland, den USA, Südafrika oder Afghanistan sind. Es muss ehrlich und offen kommuniziert werden. Egal, ob es richtig oder falsch ist, was man tut - wenn sie die Bevölkerung nicht auf ihrer Seite haben, wird es nicht klappen. Sei es bei HIV oder Kinderimpfprogrammen oder bei Covid-19.
SPIEGEL: Im Frühjahr bezeichneten Sie die Ebola-Strategie in der DRC als komplettes Versagen.
Kleijer: Im März sah es schon einmal so aus, als würde der Ausbruch zu Ende gehen, und die WHO und das Gesundheitsministerium erklärten ihren Erfolg und sagten, wie gut sie alles gemacht hätten. Und wie sie bei Covid-19 alles wieder genauso gut machen werden. Das konnten wir nicht so stehen lassen. Die Maßnahmen waren kein Erfolg, auch wenn der Ausbruch beendet wurde. Aber wir sahen große strategische Fehler: Alles Geld floss über die kongolesische Regierung und die WHO. Das gab ihnen absolute Macht. Das Geld war ein sehr wichtiger Faktor des Scheiterns, also die Korruption und der Betrug, der daraus entstand.
SPIEGEL: In Somalia wurde kürzlich der Leiter der Finanzabteilung des Gesundheitsministeriums inhaftiert - wegen Veruntreuung von Geldern, die von ausländischen Organisationen zur Eindämmung von Covid-19 gespendet worden waren. Wird Korruption auch ein Problem bei der Bekämpfung des Coronavirus?Kleijer: Die Ausmaße der Korruption, die Mengen Geld, die in der DRC verschwanden, waren absurd. Ob wir jetzt bei der Corona-Bekämpfung ähnliche Probleme bekommen, ist die große Frage. Es ist nicht unwahrscheinlich. Aber man sollte, wenn es brennt, nicht über den Bauplan des Gebäudes sprechen, sondern das Feuer löschen. Wenn man eine lebensbedrohliche Situation hat, sollte die einzige Priorität sein, sie zu stoppen.
SPIEGEL: Korruption könnte eine gute Strategie aber verzögern.
Kleijer: Ja. Es gab in unserer Organisation Leute, die sagten, dass der Ebola-Ausbruch mutwillig am Leben erhalten wurde, damit weiter Geld fließt. Viele Leute machten viel Geld mit dem Ausbruch. Ich würde sagen: Vielleicht waren einige so sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen, dass sie ihren Job nicht richtig gemacht haben, weswegen sich der Ausbruch dann so lange hinzog.
SPIEGEL: Wie wurde der Ebola-Ausbruch doch noch unter Kontrolle gebracht?
Kleijer: Im Sommer 2019 gab es einen Führungswechsel. Bis dahin war es ein sehr hierarchischer Ansatz. Die Helfer kamen mit einer "Wir wissen es besser"-Attitüde in die Dörfer. Sie sahen die Menschen als gesundheitliche Bedrohung. Man darf aber nicht den Respekt vor dem Individuum oder der Gemeinde verlieren. Das änderten sie. Sie hatten aber auch keine Wahl. Und sie haben zu lange dafür gebraucht.
SPIEGEL: Auch Matshidiso Moeti, die Regionaldirektorin der WHO in Afrika, sagte, die Lektion für Covid-19 solle sein, die Gemeinden stärker einzubeziehen. Aber wie macht man das in einem Umfeld, in dem die Menschen Sie und andere Helfer als Feinde sehen?
Kleijer: Wir kamen in die DRC und sahen, wie falsch alles lief. Und machten es dann ganz anders: Wir gingen in die Gemeinden und boten den Menschen erst einmal eine fundamentale Gesundheitsversorgung an. Wir behandelten Malaria, Unterernährung und Ebola - also eben nicht nur Ebola. Das hat funktioniert. Aber so können auch schnell zwei Monate vergehen, bis man richtig aufgestellt ist.
SPIEGEL: Die WHO und das Gesundheitsministerium verfolgten einen militärischen Ansatz, den Sie vehement ablehnten.
Kleijer: Man muss versuchen, Netzwerke aufzubauen, mit Müttern, Priestern, Lehrern, Dorfchefs, traditionellen Heilern. Wir versuchten, diese Leute auf unsere Seite zu ziehen, auch indem wir das berücksichtigten, was für sie wichtig ist. Denn sie wissen, was funktionieren wird und was nicht. Und das muss man akzeptieren, auch wenn man zum Beispiel als Arzt der Ansicht ist, es gäbe bessere Strategien.
SPIEGEL: Ein anderes großes Problem bei der Ebola-Bekämpfung, das wir nun auch in Industrienationen sehen, waren Verschwörungstheorien. Die Menschen dachten zum Beispiel, sie würden in den Behandlungszentren oder durch die Impfungen erst infiziert, damit die Fremden weiter Geld verdienen könnten. Wie arbeitet man dagegen an?
Kleijer: Ja, es war ein Umfeld mit sehr vielen Verschwörungstheorien und extrem viel Misstrauen. Bei uns ist es jetzt nicht anders: Schauen Sie sich die Demonstrationen in den USA gegen Masken an, in einer Gesellschaft mit hohem Bildungsstandard und einem viel besseren Zugang zu Informationen. Im Kongo können Teile der Bevölkerung nicht lesen. Die Menschen haben Leichen ausgebuddelt, weil sie gehört hatten, in den Behandlungszentren würden den Patienten die Organe gestohlen. Es hieß, die Helfer machen alle nur Geld mit der Bevölkerung, und diese habe nichts davon. Es liegt in der menschlichen Natur, Dingen zu misstrauen, die wir nicht verstehen - das ist überall auf der Welt so, wie wir jetzt erleben. Ich hoffe, die Menschen, die damals die abergläubischen Afrikaner belächelt haben, verstehen jetzt ein bisschen besser, wie es ist, mit einer Bedrohung zu leben, die man nicht sehen oder spüren kann.
SPIEGEL: In der DRC dachten viele Menschen auch, die Krankheit sei gar nicht real. Nun hört man Ähnliches zum Beispiel aus Nigeria oder Somalia über Covid-19. Wie kann man dagegen angehen?
Kleijer: Sie müssen mit den Anführern der Gemeinden reden. Nichts anderes wird Erfolg haben. Es handelt sich um extrem komplexe Gesellschaften, mit vielen Problemen, die wir in Europa gar nicht kennen. Im Allgemeinen reagieren viele Menschen sehr gut, wenn sie Feuer vor sich sehen oder einen Löwen. Aber sie reagieren sehr schlecht auf Logik und Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Wenn nicht Freunde oder Familienmitglieder um sie herum sterben, glauben viele nicht an die Gefahr.
SPIEGEL: Die WHO geht davon aus, dass in Afrika die Fallzahlen stetig steigen werden, solange es keinen Impfstoff gibt. Gleichzeitig sagte kürzlich der CEO der Impfallianz "Gavi", die Stimmung gegenüber Impfkampagnen sei so schlimm, wie er es noch nie erlebt habe.
Kleijer: Es stimmt: Wir haben nun viel mehr Probleme bei Impfkampagnen. Zum Beispiel gegen Masern: Die Menschen denken, sie bekommen Covid oder werden vergiftet. In Afrika haben viele mitbekommen, dass ein französischer Arzt im Fernsehen gesagt hat, man solle Impfstoffe in Afrika testen. Die Leute vertrauen uns nicht, denken, wir probieren etwas an ihnen aus. Ich sehe allerdings gerade weniger die Impfstationen brennen als die Behandlungszentren. Denn immer weniger Menschen wollen in die Behandlungszentren kommen, weil sie Angst haben, sich mit der Krankheit der Weißen anzustecken. Die größte Herausforderung wird aber sein, den Impfstoff in die Entwicklungsländer zu bekommen. Wenn Covid-19 eines gezeigt hat, dann, dass die Welt eigennützig und selbstbezogen ist. Ich habe noch nie so eine dreckige, mafiöse Straßenkämpfermentalität gesehen wie bei der Beschaffung von Masken in den vergangenen Monaten.
SPIEGEL: Wie sieht es derzeit in den MSF-Kliniken in den Entwicklungsländern aus, gibt es bereits Probleme mit den Gemeinden bei der Corona-Bekämpfung?
Kleijer: Oh ja. Wieder ist Vertrauen das große Problem. Die Menschen betrachten die Behandlungszentren als Bedrohung. Sie betrachten die Fremden als Bedrohung. Wenn Sie als Weißer in bestimmten Gemeinden die Straße entlanglaufen, wird Ihnen oft "Corona" hinterhergerufen. Es gibt Drohungen, Wut, Abneigung. In Sierra Leone wurden zwei Kliniken niedergebrannt, um zu verhindern, dass Covid-Behandlungszentren eingerichtet werden. Wir sehen aber noch keine extreme Gewalt. Wir haben es weitaus schlimmer erwartet. Unsere Epidemiologen denken, das Schlimmste kommt noch. Und dann wird es darauf ankommen, wie die Regierungen reagieren und wie viel Aggressionen das erzeugen wird. Wir sagen bisher jeden Monat: Nächsten Monat wird es passieren.
spiegel
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