Das brasilianische Trauma vor dem 7:1

  16 Juli 2020    Gelesen: 851
  Das brasilianische Trauma vor dem 7:1

Vor genau 70 Jahren steht Brasilien unmittelbar vor dem ersten WM-Triumph. Die Reden und Artikel sind schon vorgeschrieben. Doch das kleine Uruguay schafft das Unmögliche, besiegt die fußballerische Übermacht - und verwandelt die große Party im Maracana-Tempel zur nationalen Tragödie.

Sein Meisterwerk fasste Alcides Ghiggia gerne in einen simplen Satz: "Nur drei Personen brachten das Maracana zum Schweigen: Papst Johannes Paul II., Frank Sinatra und ich." Sein Tor am 16. Juli 1950 schenkte Uruguay den zweiten WM-Titel, warf lähmendes Entsetzen über die zuvor feiernde Fußballarena - und stürzte ganz Brasilien in Depression.

"Maracanazo" nennt das kleine Volk am Rio de La Plata stolz das Wunder von Rio de Janeiro. Der Sieg eines Underdogs gegen den haushohen Favoriten in dessen Territorium. Wie der EM-Triumph von Otto Rehhagels Griechen 2004 gegen Gastgeber Portugal.

Vor 70 Jahren schien eine "Uru"-Niederlage gar unabwendbar. Brasilien hatte in der Vierer-Finalrunde Schweden (7:1) und Spanien (6:1) abgefertigt, Uruguay sich mit einem Remis gegen die Iberer (2:2) und nur dank zweier später Treffer gegen die Skandinavier (3:2) gerade mal theoretisch die Chance auf den WM-Triumph gewahrt. Und so strömten zum finalen Duell offiziell 173.850 Zuschauer plus zigtausende ungezählter Fans in die exakt einen Monat zuvor eingeweihte, futuristisch anmutende Betonschüssel. Viele hielten die Abendausgabe der "A Noite" in der Hand, mit einem Mannschaftsfoto der Selecao und dem Titel: "Das sind die Weltmeister."

Es war Wahljahr in Brasilien. Rios Bürgermeister Mendes de Morais richtete seine Final-Ansprache pathetisch an "euch, Brasilianer, die ich schon als Sieger begrüße". Während Europa erst langsam aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges auferstand, war unter dem Cristo Redentor in zwei Jahren kühn das damals größte Stadion der Welt erbaut worden.

Ein Sieg, ja selbst ein Unentschieden, und die Welt sähe endlich das moderne Brasilien. Als Ghiggia aber bei noch elf Minuten auf der Spieluhr von rechts in den Strafraum zog, sein Schuss zwischen kurzen Pfosten und dem Torhüter-Handschuh eine Lücke fand, war das brasilianische Trauma nicht mehr abzuwenden. Der damalige Präsident des Weltverbandes Fifa, Jules Rimet, erinnerte sich in seinen Memoiren: "Als ich aus dem Tunnel kam, herrschte ein trostloses Schweigen. Keine Ehrengarde, keine Nationalhymne, keine Rede, keine feierliche Pokalübergabe", schrieb der Franzose. Mit einer auf Brasilien vorformulierten Ansprache in der Tasche.

Nun verloren wie 200.000 andere Stadionbesucher. Brasilien gegen Uruguay im Maracana gab es dann noch häufiger. Auf den Tag genau 1989 im Finale der Copa America, das Romario zugunsten der Selecao entschied. Wie auch knapp vier Jahre später das entscheidende Qualifikationsduell zur WM 1994 mit seinen zwei Treffern.

Schmach überwunden, bis zum "Mineirazo"

Auf dem Rasen hat Brasilien die Schmach überwunden, abgestreift wie das damalige weiße Trikot, das in der Folgezeit durch das heutige gelbe ersetzt wurde. 1958 kam in Schweden der, mit acht Jahren verspätete, erste WM-Titel, dem noch vier weitere folgten. Uruguay spielte nie wieder ein WM-Finale.

Der brasilianische Schriftsteller Nelson Rodrigues attestierte seinem Volk nach dem Maracanazo einen Straßenköter-Komplex. Der Brasilianer würde sich freiwillig gegenüber dem Rest der Welt unterwürfig zeigen, auf sein eigenes Image spucken. Fünf WM-Triumphe später fühlte sich das Volk am Zuckerhut jedoch wie ein Rassehund. Bis zum Mineirazo - dem 1:7 gegen Deutschland im WM-Halbfinale 2014 im Mineirao-Stadion von Belo Horizonte. Der Unterschied: Die DFB-Elf wurde als ebenbürtiger Gegner anerkannt, Uruguay aber damals niemals.

Quelle: ntv.de, Heiner Gerhardts, sid


Tags:


Newsticker