Als Angela Merkel im Europaparlament sprach, wählte sie große Worte. "Menschen- und Bürgerrechte sind das wertvollste Gut, das wir in Europa haben", sagte die Kanzlerin in der Rede zur Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Deutschland.
Es klang wie eine Kampfansage an die Populisten in Staaten wie Ungarn, Polen oder Tschechien, die Medien und Justiz gleichschalten, Minderheiten gängeln und Milliarden aus EU-Töpfen in die eigenen Taschen und die ihrer Freunde umleiten.
Eine gute Woche sind Merkels Worte nun alt, und wahrscheinlich werden sie schon Ende dieser Woche wieder Makulatur sein. Von diesem Freitagvormittag an verhandeln die 27 EU-Staats- und Regierungschefs über das 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbaupaket für die Zeit nach der Coronakrise und den nächsten Sieben-Jahres-Haushalt der EU, der seinerseits rund 1,1 Billionen Euro umfasst.
Nie zuvor ging es bei EU-Budgetverhandlungen um so viel. Nicht um so viel Geld und nicht um so viel Grundsätzliches."Das ist ein Moment der Wahrheit für Europa", sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Beginn der Verhandlungen. Und eines scheint schon jetzt klar: Der Rechtsstaat wird dabei nicht das wertvollste Gut sein.
Wer bekommt nach welchen Regeln wie viel Geld?
Die größte Frage ist, nach welchen Regeln das Geld aus dem Corona-Wiederaufbaupaket verteilt wird. Die EU-Kommission und EU-Ratspräsident Charles Michel schlagen vor, 250 Milliarden Euro in Form von Krediten und weitere 500 Milliarden Euro als reine Zuschüsse zu vergeben. Erstmals sollen die EU-Staaten dafür gemeinsam Schulden aufnehmen.
Ebenfalls neu wäre, dass in großem Stil Geld umverteilt wird - in diesem Fall vor allem in Richtung der Krisenstaaten im Süden - und die EU neue Eigenmittel bekäme, etwa durch eine Plastiksteuer, den Emissionshandel oder eine Digitalsteuer.
Doch Streit gibt es in nahezu allen wichtigen Punkten. Die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark, die in den Verhandlungen als die "Sparsamen Vier" auftreten, wollen am liebsten nur Kredite vergeben - und auch sie an strenge Bedingungen wie etwa Reformen in den Empfängerländern knüpfen.
Die vom Coronavirus besonders betroffenen Staaten im Süden, allen voran Italien und Spanien, fordern dagegen eine schnelle Auszahlung ohne großes Wenn und Aber.
Ratspräsident Michel hat noch kurz vor dem Gipfel Gespräche mit dem niederländischen Premier Mark Rutte, Kanzlerin Merkel und Emmanuel Macron geführt. Der französische Präsident traf Rutte sogar noch am Morgen des Gipfels zum Vieraugengespräch. Doch der Niederländer weicht keinen Millimeter von seiner Position ab.
Er fordert gar ein Vetorecht bei jeder Entscheidung über Auszahlungen - während nach Angaben von Diplomaten alle anderen Staaten den deutschen Vorschlag befürworten, mit qualifizierter Mehrheit darüber zu entscheiden.
Ob es schon an diesem Wochenende eine Einigung gibt, ob man sich auf Ende Juli vertagt oder ob es einen Verhandlungsmarathon bis Montag gibt, ist völlig offen. "Es bedarf wirklich großer Kompromissbereitschaft aller", sagte Merkel zu Beginn des Gipfels. Die Unterschiede in den Positionen seien "noch sehr, sehr groß". Deshalb könne sie nicht voraussagen, "ob wir bei diesem Mal schon zu einem Ergebnis kommen".
Beste Chancen für Rechtsstaatssünder
Nur in einem Punkt ist der Ausgang schon jetzt absehbar: Das laut Merkel "wertvollste Gut" der EU, die Menschen- und Bürgerrechte, werden beim Geschacher um die Milliarden wohl unter die Räder kommen.
Eigentlich sollte im nächsten Sieben-Jahres-Haushalt der EU ein neuartiger Mechanismus verankert werden: Wer Rechtsstaats-Standards missachtet, soll weniger Geld bekommen.
Von der Kommission vorgeschlagene Kürzungen sollten die Mitgliedsländer nur noch mit qualifizierter Mehrheit von 15 Staaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung abwenden können - eine hohe Hürde. Die EU hätte endlich ein wirksames Mittel gehabt, gegen Korruption und Demokratie-Demontage in ihren Mitgliedsländern vorzugehen.
Das zumindest war der Vorschlag der Kommission.
Doch Ratspräsident Michel hat die Methode umgedreht: Für Geldkürzungen sollte eine qualifizierte Mehrheit der Länder notwendig sein. Damit wäre der Mechanismus ähnlich wirkungslos wie alle bisherigen Instrumente der EU gegen Rechtsstaatssünder in den eigenen Reihen.
Doch Ungarn und Polen ist selbst diese Abschwächung noch nicht genug. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki sagte am Freitag, er werde der "willkürlichen" Verknüpfung von Rechtsstaat und Haushalt nicht zustimmen. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hatte für diesen Fall schon vorher unverhohlen mit seinem Veto gedroht. Dann werde es "keine Wiederbelebung der Wirtschaft und keinen Haushalt" geben, sagte Orbán im ungarischen Radio.
Drei Tage vor dem Gipfel ging er noch weiter und ließ das von seiner Fidesz-Partei dominierte Parlament eine Resolution beschließen: Demnach soll Orbán einem Gipfel-Kompromiss nur dann zustimmen, wenn die EU auch das laufende Strafverfahren gegen Ungarn wegen Verstößen gegen die Grundwerte der Union einstellt.
Es ist eine selbst für Orbáns Verhältnisse bemerkenswerte Provokation.
spiegel
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