Es sind keine anderthalb Jahre mehr bis zum Abtreten der ewigen Bundeskanzlerin. Aber im letzten Jahr, bevor sich Deutschland politisch in den Bundestagswahlkampf verabschiedet, soll Angela Merkel noch einmal in Brüssel das Unmögliche möglich machen: In einem existenzgefährdenden Moment für das Bündnis hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne. Die Kanzlerin will möglichst bis Sonntag die 27 EU-Mitgliedsländer auf einen Nenner bringen, sodass alle Staats- und Regierungschefs mit einer gesichtswahrenden Lösung heimfahren können. Im Idealfall ist dieser Kompromiss dann auch noch geeignet, Europa einen Weg aus der verheerendsten Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren zu weisen.
Krise war schon vor der Pandemie
Schon ohne die Corona-Krise rüttelten etwaige Zerrkräfte an der EU: Seit Jahren wabert der Streit um den mehrjährigen Haushalt der Union. Inzwischen ist es Sommer 2020 und noch immer steht nicht fest, welches Land ab kommendem Jahr bis 2027 wie viel einzahlen soll. Der Konflikt wurde durch das Ausscheiden der solventen Beitragszahler von der britischen Insel verschärft. Zugleich entgleiten Osteuropa zunehmend die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen, die überhaupt erst zu einer EU-Mitgliedschaft qualifizieren. Besonders Ungarn und Polen kippen seit Jahren schleichend ab, weshalb Forderungen laut werden, EU-Zahlungen an Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Ungarns autokratischer Regierungschef Viktor Orban und seine Verbündeten laufen dagegen Sturm. Sie drohen mit ihrer Vetomacht beim Gipfel in Brüssel, schließlich brauchen Haushaltsfragen die einhellige Zustimmung aller Regierungen.
Zu Haushalt, Brexit, Orban und Konsorten gesellt sich nun also noch Corona: Die EU-Wirtschaftsleistung bricht im laufenden Jahr voraussichtlich um 7,7 Prozent ein. Das entspricht mehr als 1000 Milliarden Euro und vielen Millionen Arbeitslosen. Es braucht nicht viel Geschichtswissen, um zu ahnen, zu welchen gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen eine schlagartige Verarmung der Massen führen kann. Das ist dann auch einer von vier Gründen, warum eine Einigung bis Sonntag gelingen kann, obwohl die Differenzen in Merkels Worten "sehr, sehr groß" sind.
Endlich wieder persönliche Begegnungen
Erstens wissen alle um Dramatik der Situation. Der Kollaps ganzer Volkswirtschaften ist nicht ausgeschlossen, allen voran das überschuldete und besonders von der Pandemie betroffene Italien. Zweitens hat angesichts der engen wirtschaftlichen Verknüpfungen kein Land das geringste Interesse an einem wirtschaftlichen Zusammenbruch einzelner Mitgliedstaaten. Das gilt drittens inbesondere für das exportorientierte Deutschland, weshalb Merkel bereits ankündigte, "mit einem gewissen Vorrat an Kompromissbereitschaft nach Brüssel" zu fahren. Viertens steht Berlin nicht allein auf weiter Flur: Merkel hat sich eng abgestimmt mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie mit EU-Ratspräsident Charles Michel und - wichtiger noch - mit Emmanuel Macron. Frankreichs Präsident ist schon seit Donnerstag in Brüssel im diplomatischen Dauereinsatz. Es hilft, dass zu diesem kritischen Zeitpunkt man erstmals seit Pandemie-Beginn wieder persönlich in Brüssel zusammenkommt.
Das Trio wirbt für einen Plan, dessen Dimensionen ihresgleichen suchen: ein Paket über 1,8 Billionen Euro. Dieses soll bestehen aus dem mehrjährigen Haushalt in Höhe von 1074 Milliarden Euro. Das sind rund 20 Milliarden Euro weniger als im laufenden Sieben-Jahres-Budget. Die Streitpunkte lauten: Wer zahlt wie viel ein? Wer bekommt aus dem Topf wie viel wofür? Spielt bei der Ausschüttung die Rechtsstaatlichkeit des Empfängerlandes eine Rolle? Die Bundesregierung fordert als größter Nettozahler einen Rabatt über mehr als drei Milliarden Euro für Deutschland. Weitere Länder, die mehr einzahlen als sie zurückbekommen, wollen ihre Beiträge ebenfalls drücken.
Ein Schritt in Richtung Schuldenunion
Dass die Verhandlungen über den Haushalt mit dem Corona-Rettungspaket verknüpft wurden, macht die Sache nicht einfacher: Zusätzlich zum im April beschlossenen Hilfspaket über 540 Milliarden - unter anderem für Gesundheitskosten und Kurzarbeitergeld-Programme - soll die EU 750 Milliarden Euro mobilisieren, davon 500 Milliarden Euro in nicht rückzahlbaren Zuschüssen für konkrete Projekte. Die EU soll hierfür im Namen ihrer Mitglieder Kredite aufnehmen. Davon sollen in erster Linie die am stärksten von der Pandemie betroffenen EU-Länder Italien und Spanien profitieren. Polen würde an dritten Stelle folgen; aber auch alle anderen erhielten Geld - einschließlich Deutschland.
Für die Unionsparteien in der Großen Koalition bedeutet das eine Abkehr von einem alten und mühsam verteidigten Prinzip: Deutsches Steuergeld solle nicht Haushaltslöcher anderer Staaten stopfen, was nun aber indirekt passieren könnte; zumindest würde die Bundesrepublik anderer Länder Projekte mitfinanzieren. Deutschland würde sich als wirtschaftsstärkstes Mitglied mit rund 125 Milliarden Euro an der Tilgung des EU-Kredits beteiligen. Die Tilgungszahlungen sollen 2025 beginnen. Dass das Geld in den nationalen Haushalten dann fehlen wird, bekommen Bürgerinnen und Bürger also erst in einigen Jahren zu spüren.
Widerstand in Deutschland und Europa
In Merkels CDU regt sich Widerstand: Der Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, Carsten Linnemann, und der Europa-Abgeordnete Markus Pieper, warnen vor einer Überlastung der deutschen Finanzkraft. In einem Gastbeitrag in der "Rheinischen Post" fordern sie "ehrliche Reformen statt neuer Schulden". Die Mahner in der Union, aber auch in der AfD und FDP, wissen sich nicht allein in Europa. Dänemark, Österreich, die Niederlande und Schweden stemmen sich gegen direkte Zuschüsse und bieten allenfalls günstige Kredite über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) an.
Je nach Standpunkt werden diese Länder als die "sparsamen Vier" oder "geizige Vier" tituliert. Sie verweisen darauf, dass die größten vorgesehen Empfänger von Zuschüssen - Italien mit 82 Milliarden Euro und Spanien mit 77 Milliarden Euro - in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten schlecht gewirtschaftet haben. Andere Länder sollten demnach dafür aufkommen müssen, dass Rom und Spanien keinen krisenfesten Haushalt hatten, als Corona nach Europa kam. Sie wollen deshalb auch etwaige Hilfen an Auflagen wie etwa Strukturreformen und Sparmaßnahmen knüpfen. Angesichts dieser grundsätzlichen Differenzen schätzte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte die Chancen für einen Kompromiss kurz vor Gipfelbeginn als geringer als 50 Prozent ein.
Italien will Geld ohne Bedingungen
Insbesondere Italiens Ministerpräsident um Guiseppe Conte wehrt sich vehement gegen Bedingungen, die er als Einmischung brandmarkt. Die von der populistischen 5-Sterne-Bewegung geführte Regierung befeuert den Eindruck vieler Italiener, in der Krise von der EU Stich im gelassen worden zu sein - so wie schon zu Hochzeiten der Flüchtlingskrise.
Deshalb ist der Corona-Fonds aus der Perspektive der Regierungen in Berlin, Brüssel und Paris nicht allein eine wirtschaftliche Notwendigkeit: Es geht ihnen um ein Zeichen europäischen Zusammenhalts. Andernfalls muss man zwar nicht vom Schlimmsten ausgehen, aber zumindest auf alles gefasst sein. Ob am Ende von Merkels Amtszeit ihr die ganze EU doch noch um die Ohren fliegt oder sie einen Anteil daran hat, das Bündnis raus aus der Krise in ruhigeres Gewässer zu führen? Am Montag weiß sie womöglich schon mehr.
Quelle: ntv.de
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