Asylpolitik: System der Scheinheiligkeit
Es hätte nicht der mahnenden Worte des österreichischen Kanzlers Werner Faymann und Bundeskanzlerin Angela Merkel am frühen Dienstagnachmittag bedurft, um zu erkennen: Die europäische Asylpolitik ist gescheitert.
Die Schwächen dieses Systems waren seit Jahren offensichtlich.
Zwar ist Artikel 16a des Grundgesetzes eindeutig: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Die Bundesregierung hat dem Artikel jedoch schon vor längerer Zeit ein großes Aber hinzugefügt.
Sie hat an den Außengrenzen Europas ein darwinistisches Regime etabliert. Das Asylrecht gilt nur für jene, die europäisches Territorium erreichen. Genau das aber ist durch Europas Grenzpolitik beinahe unmöglich geworden. Die EU-Staaten haben an ihren Rändern Zäune errichtet und Mauern hochgezogen, um Flüchtlinge fern zu halten. Für Schutzsuchende, egal ob aus Eritrea, Syrien oder Irak, existieren keine sicheren, legalen Wege nach Europa. Sie müssen Schleuser bezahlen, in seeuntüchtige Boote und überfüllte Lastwagen steigen, um in der EU Asyl überhaupt auch nur beantragen zu können.
Der Selbstbetrug funktioniert nicht mehr
Wer dies mit viel Glück und Geld schafft, ist durch das Dublin-Abkommen dazu gezwungen, in jenem europäischen Land auszuharren, welches er zuerst betritt. Selbst anerkannte Flüchtlinge dürfen ihren Ankunftsort nicht dauerhaft verlassen. Dublin hat dazu geführt, dass Migranten in Ungarn, Bulgarien, Italien in Elendslagern hausen, die nicht nur Human Rights Watch als menschenunwürdig kritisiert.
Deutschland hat sich in diesem System der Mehrfach-Abschottung jahrelang wunderbar eingerichtet. Die Bundesregierung konnte einerseits das Asylrecht hochleben lassen und musste gleichzeitig so gut wie keine Flüchtlinge versorgen. 2007 stellten gerade einmal 19.000 Menschen einen Asylantrag.
Dieser Selbstbetrug funktioniert nicht mehr. Die Kriege im Irak und in Syrien, die Krisen in Eritrea und in Libyen haben die Situation grundlegend verändert: Die Not der Menschen ist so groß, das keine noch so restriktive Asylpolitik ihre Migration verhindern kann. Die hohe Zahl an Flüchtlingen hat das europäische Grenzregime, dieses zynische Gebilde, einstürzen lassen.
Die Bundesregierung muss nun eine Entscheidung treffen. Sie kann ihre Asylpolitik grundlegend neu fassen. Dies würde bedeuten, etwa durch groß angelegte Resettlement-Programme und die Einführung des Botschaftsasyls, endliche ausreichend legale Wege für Flüchtlinge nach Europa zu schaffen. Das Dublin-Regime würde durch ein System der europaweiten Verteilung von Flüchtlingen ersetzt. Die EU müsste garantieren, dass Mitgliedsstaaten nicht länger systematisch Mindeststandards für Flüchtlinge unterlaufen, notfalls durch Sanktionen.
Mit einer Reform des Asylsystems wären höhere Kosten für die Bundesrepublik und eine Mehr an Integrationsarbeit verbunden. Die Ressourcen dafür sollten vorhanden sein. Der deutsche Staat hat im ersten Halbjahr 2015 über 21 Milliarden Euro mehr eingenommen als ausgegeben. Die Schwierigkeiten der Kommunen bei der Aufnahme von Flüchtlingen, die zurzeit in München, Dortmund und andernorts zu besichtigen sind, sind weniger Zeichen einer grundsätzlichen Überforderung als vielmehr das Ergebnis von Missmanagement eines Bundesinnenministers, der noch im Frühjahr seine Asylpolitik auf der Grundlage offenkundig falscher Prognosen gestaltet hat.
Die Alternative zu einer Neufassung des Asylrechts ist dessen Abschaffung. Die Bundesregierung müsste eingestehen, dass das Asylrecht zwar eine hübsche Erfindung ist. Man aber derzeit nicht in der Lage oder willens ist, es auch unter schwierigen Bedingungen durchzusetzen. Das wäre selbstverständlich eine Kapitulation vor allen Werten, die Deutschland für sich beansprucht. Aber ehrlicher als das gegenwärtige System der organisierten Scheinheiligkeit.