Die größten Rätsel um das Coronavirus

  20 Juli 2020    Gelesen: 1161
  Die größten Rätsel um das Coronavirus

Bereits der Ursprung des Virus Sars-CoV-2 liegt noch vollkommen im Dunkeln. Zwischen Anfang Oktober und Dezember 2019 soll die Pandemie ihren Anfang genommen haben, ergaben genetische Untersuchungen. Forscher nehmen an, dass der Erreger von Fledermäusen in Südchina stammt. Aber schon der Weg in die mehr als 1000 Kilometer entfernte Millionenstadt Wuhan, wo der erste bekannte größere Ausbruch auf einem Fisch- und Wildtiermarkt auftrat, ist nach wie vor nebulös.

Andere Tiere werden als sogenannte Zwischenwirte in Betracht gezogen: Schlangen, Schuppentiere, Marderhunde. Nach wie vor ausgeschlossen ist nicht, dass es einen Laborunfall gegeben hat, der das Virus freisetzte - schließlich wird ausgerechnet in Wuhan an derartigen Coronaviren geforscht. Gleichzeitig versuchen chinesische Behörden gleich zu Beginn, Informationen über den Ausbruch zurückzuhalten. Sicher ist: Der Patient null, also der erste Mensch, der sich infiziert hat, ist bis heute nicht öffentlich bekannt.

Das neue Virus hätte wohl nicht viel Aufmerksamkeit erregt, wenn es nicht sehr krank machen würde. Es sind schließlich die ersten Toten in China, die für Besorgnis und Unruhe sorgen. Vor allem, weil einige von ihnen auf grausame Weise sterben. Denn der Erreger befällt vor allem die Atemwege und kann die Lunge arg in Mitleidenschaft ziehen. "Ich fühlte mich, als würde ich ertrinken", berichtet später ein Überlebender aus Norditalien. Sars-CoV-2 ist ein brutaler Killer, so scheint es. Allerdings ist bis heute offen, wie tödlich das Virus tatsächlich ist.

Die Krankheit, die das Virus auslöst, erhält bald einen Namen: Covid-19. Die bis heute beschriebenen Symptome sind zahlreich. Bei vier von fünf Menschen verläuft Covid-19 jedoch unspektakulär, schätzen Experten. Die meisten Patienten haben schlimmstenfalls Fieber und Husten, fühlen sich erschöpft. Seltener treten auch Schnupfen und eine Störung des Geruchs- und Geschmackssinn auf. Aber für 15 Prozent kann es ernst, für etwa 5 Prozent sogar sehr ernst werden: Es drohen Lungenentzündung, akutes Lungenversagen, Sepsis oder septischer Schock - in manchen Fällen mit tödlichem Ausgang. Vor allem ältere Menschen und jene mit Vorerkrankungen sind am gefährdetsten.

Unsichtbar und schnell

Nach anfänglicher Ungewissheit wird zu Beginn des Jahres klar: Das Virus macht nicht nur krank, es verbreitet sich auch rasch von Mensch zu Mensch. Kein Wunder, denn es wird im Rachen von Infizierten gefunden, von wo aus der Weg zum nächsten Opfer nicht weit ist. Vor allem im Inneren kleiner Speichel-Tröpfchen, so sind sich Experten mittlerweile sicher, wird der Erreger auf kurze Distanz weitergegeben - durch Husten, Niesen, bei einem Gespräch oder beim Küssen.

Doch was die Übertragung angeht, sind bis heute Fragen offen. Mit der Zeit wird jedoch ein Muster erkennbar: Fabriken, Großraumbüros, Bars, Clubs, Kirchen, Kreuzfahrtschiffe, temporäre Wohnunterkünfte von Arbeitern - sie alle stehen in Zusammenhang mit sogenannten Superspreading-Events. Es handelt sich um geschlossene Räume, in denen sich viele Menschen über längere Zeit tummeln, dabei reden, singen und lachen. Oft sind die Räume schlecht oder gar nicht belüftet. Deshalb erhärtet sich der Verdacht, das Virus könne sich auch in Form schwebender Partikel, sogenannter Aerosole, in geschlossenen Räumen ausbreiten. Und zwar nicht nur über kurze Distanzen, sondern bis in die hintersten Winkel. Doch bewiesen ist das bisher nicht.

Im Laufe der Pandemie gibt das Virus immer wieder neue Rätsel auf. Wie etwa der Bericht von einem Fischtrawler, der von Argentinien aus gestartet war und 35 Tage auf See verbrachte. Das Merkwürdige: Bei seiner Rückkehr waren 57 von 61 Besatzungsmitgliedern mit dem Coronavirus infiziert. Dabei war jedes Besatzungsmitglied vor Beginn der Reise negativ getestet worden und hatte 14 Tage in Quarantäne verbracht. "Schwer nachvollziehbar" nennt die örtliche Gesundheitsbehörde daher den Fall.

Ein weiteres Mysterium der Corona-Pandemie ist nach wie vor die Rolle der Kinder. Was auffällt, ist, dass sie seltener krank werden. Nur etwa 1 Prozent aller Covid-19-Fälle sind Kinder unter 10 Jahren, nur 4 Prozent Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren, so die EU-Gesundheitsagentur ECDC. Gleichzeitig scheint es, als würden Kinder genau so oft infiziert wie Erwachsene; zudem weisen sie eine vergleichbar hohe Viruslast im Rachen auf.

Kinder die "Bremsklötze" der Pandemie?

Welchen Einfluss Kinder auf die Ausbreitung des Erregers haben, kann bis heute niemand mit Sicherheit sagen. Bei der Grippe gelten Kinder als Treiber von Infektionswellen und Schulen als wahre Virus-Brutstätten. Ein Grund, warum diese mit als Erstes geschlossen wurden. Doch die Maßnahme könnte unbegründet gewesen sein: Erste Ergebnisse einer Studie mit 2000 Schülern und Lehrern in Sachsen liefern keine Hinweise, dass Kinder oder Jugendliche das Virus besonders schnell verbreiten. Im Gegenteil: "Kinder sind vielleicht sogar Bremsklötze bei der Infektion", sagt Studienleiter Reinhard Berner.

Die wohl wichtigste Frage bei der Bewertung des Virus: Wie tödlich ist es tatsächlich? Zwar wird immer von Corona-Toten gesprochen. In Deutschland zählt das Robert-Koch-Institut (RKI) zuletzt mehr als 9000 Todesfälle in, so heißt es dort, "Zusammenhang" mit Covid-19-Erkrankungen. Bei mittlerweile mehr als 200.000 Erkrankten bedeutet das: Fast 5 Prozent der erfassten Covid-19-Patienten sind gestorben. Dem wird oft die Sterblichkeit der Grippe gegenübergestellt, die bei 0,1 bis 0,2 Prozent der Fälle liegt.

Ein Vergleich, der jedoch hinkt: Denn zwei wichtige Aspekte, die für die tatsächliche Tödlichkeit von Sars-CoV-2 ausschlaggebend sind, sind unklar. Zum einen: Wie viele der infizierten Todesopfer sind tatsächlich ausschließlich an Covid-19 gestorben? Nicht sehr viele, glaubt etwa der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel, der Hunderte Corona-Tote obduziert hat. Seine Erkenntnis: Dass alle Toten "schwerwiegende Vorerkrankungen hatten, die ihre Lebenserwartung stark einschränkten", sagt Püschel im Interview mit der "Zeit". Mit anderen Worten: Sie wären womöglich auch ohne das Virus bald gestorben. Püschel schätzt die tatsächliche Sterberate bei Covid-19 daher auf deutlich unter 1 Prozent.

Wie hoch die Sterblichkeit tatsächlich ist, bleibt zum anderen deshalb offen, weil auch die Zahl der tatsächlichen Corona-Infizierten unbekannt ist. Möglicherweise sind es in Deutschland viel mehr als die 200.000 registrierten Fälle. Das RKI etwa hat mittels Antikörper-Tests herausgefunden, dass sich 1,3 Prozent der Blutspender zuvor mit Sars-CoV-2 infiziert hatten. Auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet wären das mehr als eine Million Infizierte. Die Blutspender-Zahlen seien jedoch "nicht für die Allgemeinbevölkerung repräsentativ", betont RKI-Chief Lothar Wieler.

Aufschluss über die tatsächliche Letalität (Tödlichkeit) von Sars-CoV-2 könnte die sogenannte Übersterblichkeit geben - also wie viele Menschen während der Pandemie im Vergleich zum Durchschnitt mehr gestorben sind. Diese Übersterblichkeit scheint - außer im April - für Deutschland nicht wesentlich vom Durchschnitt abzuweichen. Allerdings gibt es Kritik an der Aussagekraft der deutschen Daten. Von Euromomo erhobene Daten zeigen zudem, dass in vielen anderen europäischen Ländern die Todesfälle ab Mitte März stark ansteigen. Sie übersteigen sogar die bekannten Corona-Fälle. Gibt es am Ende vielleicht sogar mehr Covid-19-Tote als angenommen? Auch das: ungewiss.

Maßnahmen übertrieben?

Womit man zu einer weiteren wichtigen Fragen kommt: Wenn bei der Gefährlichkeit des Virus immer noch so viel unklar ist - waren die strengen Maßnahmen wie Schulschließungen, Kontaktverbote und Einreisesperren überhaupt gerechtfertigt? In diesem Zusammenhang fällt das Stichwort Schweden mit seinem "Sonderweg" - trotz einer grassierenden Pandemie hatte das Land auf einen staatlichen verordneten Lockdown verzichtet.

Das Ergebnis in Schweden: Bisher mehr als 5000 mutmaßliche Corona-Tote, welche rund 55 Todesfällen pro 100.000 Einwohnern entsprechen - eine deutlich höhere Rate als in Deutschland. In Ländern wie Großbritannien und Spanien hingegen, wo es Lockdowns gab, starben im Verhältnis sogar mehr Menschen als in Schweden. Was jedoch auch feststeht: Ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems in Schweden blieb bisher aus, die Zahl der Todesfälle sinkt zudem seit Wochen. Eine abschließende Bewertung ist jedoch unmöglich, solange die Pandemie andauert.

Sicher scheint: Das mörderische Phantom Corona verliert erst nach und nach etwas von seinem Schrecken. Viele Fragen sind jedoch noch offen, viele Rätsel bleiben bestehen. Ob der Mensch den globalen Krimi am Ende aufklären kann, wird sich womöglich erst in ein paar Monaten zeigen. Oder in ein paar Jahren. Aber vielleicht auch nie.

Quelle: ntv.de


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