Regierungschefs "raufen sich zusammen"

  21 Juli 2020    Gelesen: 366
Regierungschefs "raufen sich zusammen"

Seit Freitagvormittag streiten die 27 EU-Staaten um Milliarden Euro. Mehrfach droht der Brüsseler Sondergipfel zu scheitern. Doch nun steht nach einem Verhandlungsmarathon ein Kompromiss.

Im Kampf gegen die Corona-Wirtschaftskrise haben sich die EU-Staaten auf das größte Haushalts- und Finanzpaket ihrer Geschichte geeinigt. Der Kompromiss wurde nach mehr als viertägigen Verhandlungen bei einem Sondergipfel in Brüssel von den 27 Mitgliedsstaaten angenommen, wie Ratschef Charles Michel auf Twitter mitteilte. Zusammen umfasst das Paket 1,8 Billionen Euro - davon 1074 Milliarden Euro für den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen und 750 Milliarden Euro für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm gegen die Folgen der Pandemiekrise.

Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Einigung als "wichtiges Signal". Sie sei "sehr erleichtert", dass Europa nach schwierigen Verhandlungen gezeigt habe, dass es "doch gemeinsam handeln kann", sagte die Kanzlerin am frühen Morgen in Brüssel. Nach dem vier Tage und vier Nächte langen Gipfel sei es gut, "dass wir uns zum Schluss zusammengerauft haben", sagte die CDU-Politikerin. Europa habe gezeigt, dass es bereit sei, auf außergewöhnliche Situationen mit außergewöhnlichen Antworten zu reagieren. Es sei aber auch klar, dass es nun mit dem Europaparlament nochmals "sehr schwierige Diskussionen" geben werde. Das Parlament muss dem Kompromiss noch zustimmen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron würdigte die Einigung beim EU-Gipfel als große Leistung. Macron schrieb auf Twitter: "Historischer Tag für Europa!" Der Franzose hatte sich gemeinsam mit Kanzlerin Angela Merkel für das milliardenschwere Programm gegen die Corona-Krise eingesetzt.

EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigten sich mit dem Gipfel-Ergebnis höchst zufrieden. "Das ist die richtige Einigung für Europa zur richtigen Zeit", sagte Michel. Von der Leyen sprach von einer historisch schnellen Entscheidung für den von ihr vorgeschlagenen Hilfsfonds zur Bewältigung die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise.

Natürlich seien die Verhandlungen schwierig gewesen, sagte Michel nach den Verhandlungen. Aber es seien eben auch "sehr schwierige Zeiten". Das Ergebnis sei jedenfalls ein "Erfolg für alle Europäer" und ein "Zeichen der Solidarität". Von der Leyen hob hervor, dass sie den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Fonds erst vor zwei Monaten vorgeschlagen hatte: "Das ist in der Historie der EU ein absoluter Rekord für ein neues Haushaltsinstrument."

Zwei Knackpunkte

Mit dem Finanzpaket will sich die Europäische Union gemeinsam gegen den historischen Wirtschaftseinbruch stemmen und den EU-Binnenmarkt zusammenhalten. Gleichzeitig soll in den Umbau in eine digitalere und klimafreundlichere Wirtschaft investiert werden. Dafür werden erstmals im großen Stil im Namen der EU Schulden aufgenommen, das Geld umverteilt und gemeinsam über Jahrzehnte getilgt.

Am Montag waren zwei der umstrittensten Einzelpunkte gelöst und damit der Weg zum Gesamtdeal freigemacht worden. Zum einen fand man nach tagelangem Streit einen Kompromiss zum Kern des Corona-Programms: Die sogenannten sparsamen Staaten akzeptierten, dass gemeinsame Schulden aufgenommen werden und das Geld als Zuschuss an EU-Staaten geht. Im Gegenzug willigten Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien ein, die Summe dieser Zuschüsse aus dem Corona-Programm von 500 Milliarden Euro auf 390 Milliarden zu verringern. Dazu kommen 360 Milliarden Euro, die als Kredit vergeben werden.

Der zweite Knackpunkt wurde dann am Montagabend geklärt: Man fand eine Formel zur Koppelung von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit, die alle 27 Staaten annahmen. Zuvor hatten sich Polen und Ungarn strikt gegen einen solchen Rechtsstaatsmechanismus gewehrt, zumal gegen beide Staaten Verfahren wegen Verletzung von EU-Grundwerten laufen. Mehrere andere EU-Staaten beharrten jedoch darauf, dass EU-Gelder gebremst werden, wenn gemeinsame Werte missachtet werden. Die Kompromissformel wurde von mehreren Staaten erarbeitet und in der Runde der 27 vom lettischen Regierungschef Krisjanis Karins vorgetragen.

Im neuen Text heißt es, der Europäische Rat unterstreiche die Bedeutung des Schutzes der finanziellen Interessen der EU und des Respekts der Rechtsstaatlichkeit. Vor diesem Hintergrund werde nun ein System der Konditionalität zum Schutz des Budgets und des Corona-Plans eingeführt - an die Vergabe von Geld sollen also Bedingungen geknüpft werden können. In diesem Kontext soll die Kommission dann bei Verstößen Maßnahmen vorschlagen können, die dann vom Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden.

"Das ist bedauerlich"

Die Interpretation der Klausel war unterschiedlich. Während EU-Vertreter sie als wirksame Koppelung bezeichneten, zitierte die polnische Nachrichtenagentur PAP polnische Regierungsquellen mit der Einschätzung, die Koppelung sei gestrichen worden. Ungarische Medien feierten die Einigung als Sieg für Ministerpräsident Viktor Orban. Sowohl von der Leyen als auch Michel wiesen dagegen Vorwürfe zurück, dass hierbei eine starke Lösung zugunsten des Kompromisses geopfert wurde. Mit qualifizierter Mehrheit könnten bei Verstößen Maßnahmen ergriffen werden, sagte von der Leyen.

Gleichwohl hätten die Staats- und Regierungschefs bei der Suche nach einem Kompromiss "weitreichende Anpassungen" am Haushalt vorgenommen, beklagte von der Leyen. Davon betroffen seien unter anderem die Bereiche Gesundheit und Migration. "Das ist bedauerlich." Es verringere den innovativen Teil des Haushalts.

Merkel selbst reagierte bei einer Pressekonferenz nach dem Gipfel ausweichend auf die Frage, ob künftig EU-Mittel gekürzt werden können, wenn EU-Staaten gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. "Sie wissen ja, dass ein Rechtsakt beraten wird, den die Kommission vorgeschlagen hat im Rat", sagte Merkel. "An diesem Rechtsakt muss jetzt weitergearbeitet werden." Eventuell werde man sich mit Fragen zum Thema auch noch einmal bei einem EU-Gipfel beschäftigen.

Quelle: ntv.de, bad/fzö/dpa/AFP


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